Zirl. Innweg 8

 

Wir hatten auch eine sehr unbeschwerte Kindheit. Ich bin im Innweg Hausnr. 8 aufgewachsen. Der Innweg – gut einen halben Kilometer lang - verläuft parallel zum Ehnbach, ebenso wie der Sportplatzweg auf dessen anderer Seite. Das gesamte Gebiet wird auch das „Äuele“ genannt. Früher war das ein ungenutztes Gebiet, wo Erlen, Weiden und Föhren wuchsen und gedeihten. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in den Fünfzigerjahren, wurde diese Gegend aufgrund eines Gemeinderatsbeschlusses beiderseits des Ehnbaches gerodet und zum Siedlungsgebiet umgewidmet. So konnten hier Bauwillige, zumeist junge Familien, zu günstigen Bedingungen hier ihre Einfamilienhäuser errichten. Das ganze hatte aus der Sicht der Gemeindeväter den Vorteil, dass einerseits kein wertvoller Kulturgrund für eine Siedlung verwendet werden musste und andererseits, dass den Häuslbauern günstiger Baugrund zur Verfügung gestellt werden konnte. In der Folge siedelten sich im Äuele einfache Leute mit ihren Familien an. Maurer, Tapezierer, Post- und Bahnangestellte, Bauhilfsarbeiter, Elektriker, etc. Ja sogar mein Großvater, ein einfacher Krippen- und Kruzifixschnitzer erwarb einen Baugrund und begann mit einem Hausbau.   

Den größten Teil meiner Kindheit hatte ich bei meiner Großmutter verbracht, wodurch mir das große Glück beschieden war, neben dem Ehnbach, einem zwar etwas eingedämmten, nichtsdestotrotz rauschenden Wildbach aufwachsen zu dürfen. Ein ganz großes Geschenk, allein wenn ich heute – so viele Jahrzehnte später -  an die Melodie des Wildbaches denke, die wir jeden Abend im Bett genießen konnten. Ich erinnere mich noch gerne an dieses Rauschen, dieses Plätschern, wenn ich wach im Bett neben Oma lag. Im Zimmer war es still,  nur der Ehnbach erzählte ohne Unterlass seine Geschichten: im Sommer nach heftigen Gewittern, dieses gewaltvolle Donnern und Wüten, im Winter, wenn er zugefroren war und wir das Knacken des Eises vernahmen, im Herbst, wenn er gemächlich vorbeiplätscherte und an die Erzählweise eines besonnenen alten Menschen erinnerte, oder im Frühjahr, wo das frische kühle Bachwasser die Düfte und Gerüche der erwachenden und wachsenden Natur verstärkte und diese zu uns ins Schlafzimmer drangen. Denn Oma und ich schliefen, wenn es nicht zu kalt war, bei offenem Fenster und das nicht nur wegen der frischen befreienden Luft, sondern vor allem wegen der wohltuenden, beruhigenden Kraft des Ehnbaches, diesem wunderbaren Mysterium. Ja, der Ehnbach war für uns eine Quelle des Wohlbefindens und viele viele Jahre später, als mein Onkel Albert und seine Frau Theresa das Haus bewohnten und mein Onkel gesundheitlich bereits schwer angeschlagen war, ließ er es sich doch nicht nehmen, einen kleinen überdachten Zubau anfertigen zu lassen, wo er Stunden und Tage auf einer Couch liegend verbrachte, um das Rauschen des Bachs in sich aufzunehmen und darin regelrecht aufzugehen.

 

Wie bereits erwähnt, war auf der anderen Seite des Ehnbaches der Sportplatzweg, der diesen Namen logischerweise deshalb verpasst bekam, weil am unteren Ende, neben einem kleinen Föhrenwald, der Fußballplatz lag. Natürlich war das noch ein anderer Fußballplatz als jene, die man heute landauf landab findet. Im Grunde war er nur eine bessere Schotterhalde mit einer notdürftigen Umkleidekabine aus Bauholz, ohne Fließwasser, weil sich damals die Mannschaften noch im Ehnbach abwuschen, sofern ein Spieler das Bedürfnis dazu hatte. Die Tore bestanden aus einfachen Vierkanthölzern, ursprünglich weiß angestrichen, bald aber schon grau und schmutzig. Die Tornetze waren aus Hanf und die Linien des Spielfeldes wurden mit Sägemehl gezogen. Trotzdem war dieser Sportplatz unser Paradies, wo alle Kinder der Umgebung dem Fußballspiel frönen konnten oder im Winter dem Eislaufen, denn der Eislaufplatz befand sich auch am Fußballplatz. Sogar mit richtigen Holzbanden, denn in Zirl gab es eine hervorragende Eishockeymannschaft, die unter der Führung von Fritz Waldegger stand, dessen Söhne begnadete Hockeyspieler waren.

Jedenfalls stürmten ich und meine Freunde fast täglich zum Sportplatz, um dem Ball nachzujagen: der Kremser Hanspeter und sein Bruder Robert, der Schafferer Werner, der Friedl und der Many Knoll, der Gottfried und der Hansjörg Kirchebner, die Mentha brothers, wie sie genannt wurden, der Schnaiter Tommy, der Geiger Siggl und wie sie alle hießen. Am Nachmittag traf man sich am Sportplatz und der Fußball stand im Mittelpunkt, verschwitzt, mit hochroten Köpfen wurde bis zum Umfallen gekämpft, als ob es um den Weltmeistertitel gegangen wäre und eigentlich ging es auch jeden Tag um den Weltmeistertitel. Wenn ich von zuhause zum Sportplatz eilte, dann musste ich den Ehnbach überqueren, von Stein zu Stein hüpfend, denn eine Brücke gab es nur am oberen und unteren Ende der Straße und das hätte einen Umweg bedeutet.
Unser Spiel wurde regelmäßig von Erwachsenen gestört, nach dem einen oder anderen wurde gerufen, weil er nach Hause zu kommen hatte. Das waren ärgerliche Störungen, wenn einer der Buben das Spiel verlassen musste, um die Schulaufgaben zu machen, zum Essen gerufen wurde, oder es zu dämmern begann und die Nacht langsam hereinbrach. Die Großmutter der Mentha brothers wohnte nicht weit vom Fußballplatz entfernt und die beiden Jungs standen unter ihrer Obhut. Sie holte die Brüder häufig mit lauten Rufen nach Hause, bzw. wollte die beiden nach Hause holen, nur gehörten sie nicht zu den Folgsamsten. Wenn sie zwei- dreimal nicht auf ihre lautstarken Aufforderungen reagierten, wurde ihre Stimme noch intensiver und es kam immer wieder vor, dass sie sich keinen anderen Rat mehr wusste, als zum Äußersten zu greifen, da die bisherigen Versuche keinen Erfolg brachten: „Gottfried, Hansjörg, wenn ihr nicht sofort nach Hause kommt, dann sterbe ich.“ Das war die ultimative Drohung und sollte den beiden endlich Beine  machen, was auch meistens funktionierte. Einmal war es wieder so weit, die beiden reagierten wieder nicht auf die Rufe, bis die Großmutter wieder mit dem Sterben drohte, aber an diesem Tag stand das Spiel derart auf Messers Schneide, dass eine Heimkehr zu diesem Zeitpunkt undenkbar war, sodass Gottfried zu seinem jüngeren Bruder Hansjörg ganz trocken meinte: „Hansjörg, heute lassen wir die Großmutter sterben.“

 

Wir hatten auch eine bittere Kindheit. Aufgrund des wirtschaftlichen Debakels meines Vaters – er ging mit seiner Tischlerwerkstätte in Konkurs – war ich zu meiner Großmutter gekommen. Meine Eltern und meine ältere Schwester bezogen notdürftig im Haus eines Verwandten ein Zimmer, da unser Haus versteigert wurde. Vater und Mutter mussten untertags in die Arbeit, meine ältere Schwester verbrachte die Tage bei der Großmutter väterlicherseits, während ich im Äuele bei der anderen Großmutter, im Innweg Nr. 8. landete.

Mein Großvater war Künstler. Er hatte sein Lebtag mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. Als Kind überstand er sieben Mal eine Mittelohr- und dreimal eine Lungenentzündung und das zu Zeiten, als es noch kein Penicillin gab. Obwohl seine künstlerischen Fähigkeiten schon früh zutage traten, wollten seine Eltern nicht, dass er sich in diese Richtung entwickelte.
Sie wollten keinen "Plattner-Spinner", wie der Vater die künstlerischen Ambitionen meines Großvaters verurteilte. Franz Plattner war ein einheimischer Künstler, der im Stile der Nazarener arbeitete und in dieser Art auch unsere Pfarrkirche ausmalte. Er trug langes prachtvolles Haar und sein etwas freizügiger Lebensstil passte nicht in ein Bauerndorf, das Zirl zu jenen Zeiten war.
Mein Großvater musste den Beruf eines Tischlers erlernen, eine Wahl, die ihn zeitlebens nicht glücklich machte. Vielmehr begeisterten ihn das Zeichnen und die Holzschnitzerei. Als er damals als junger Erwachsener in der schlechten Zeit arbeitslos war, dann marschierte er täglich zu Fuß die zwölf Kilometer von Zirl nach Innsbruck ins Ferdinandeum, um dort seine Zeichenstudien zu betreiben. Dies musste er vor seinen Eltern verheimlichen, die kein Verständnis für seine Passion hatten. Im Ferdinandeum wurde man auch auf ihn aufmerksam und er lernte dort einen Kunstprofessor kennen, der ihn zu einer akademischen Ausbildung verholfen hätte. Er sprach deswegen auch mit dem Vater meines Großvaters, aber da führte kein Weg hin. Stattdessen verbrannte der Vater alle Zeichnungen, die der Großvater in einer Holzkiste im Dachboden versteckt hielt und die sein Vater dort zufällig entdeckte.

Wegen seiner Geschicklichkeit wurde der Großvater bei der Arbeit oft dafür eingesetzt, Schnitzarbeiten an Möbeln und auch an Dachstühlen anzufertigen. Auch freundete er sich mit anderen Krippenschnitzern an und machte sich einen Namen als solcher, ebenso wie er auch als Kruzifixschnitzer bekannt wurde. Damit schlug er sich und seine Familie mit fünf Kindern in all den düsteren Jahren mehr schlecht als recht durch. Als er Mitte der Fünfzigerjahre gemeinsam mit seinen Söhnen Stefan und Albert im Äuele mit dem Hausbau begann, war er gesundheitlich so schwer angeschlagen, dass er bereits wenige Monate später, nachdem sie in ihr halbfertiges Haus eingezogen waren, verstarb.
Damals wurden die Verstorbenen noch zuhause aufgebahrt und auch am offenen Grab verabschiedet. Eine Eigenheit der Zirler Krippe ist es, dass darin Moos ausgelegt wird, um die Krippe möglichst naturnah zu gestalten. Es war auch üblich, dass die Krippenkünstler in den Sommermonaten überall in Tirol unterwegs waren, um schönes Moos für die Krippe aufzutreiben. So manche gelangten dabei bis nach Fieberbrunn, um das entsprechende Grünzeug zu bekommen, was natürlich auch seine heitere Seite für die Krippenkünstler hatte, wenn sie zwei, drei Tage unterwegs waren, zumal unter den Krippenkünstlern der Schnaps keine unbedeutende Rolle spielte.  Großvater trank gerne Schnaps, aber nicht unmäßig, außerdem erleichterte ihm dieser etwas die Atmung. Er hatte seit vielen Jahren mit der Luft, mit Asthma, zu kämpfen.
Großvater starb auch an Lungenkrebs und einer seiner letzten Wünsche war, dass man seinen Sarg mit Moos auslegen sollte. Das wünschte er sich als alter Krippenkünstler, und ich erinnere mich noch sehr gut, wie der Sarg im Hausgang stand, seine Söhne seinem Wunsch nachkamen und ich völlig verschreckt das alles miterlebte und hysterisch schrie, weil ich nicht wollte, dass man meinen Großvater in diese moosbelegte Kiste legte. Ich war dermaßen außer mir, dass man mich weg bringen musste und ich auch nicht zum Begräbnis gehen musste.

Obwohl meine Großmutter den Großvater um mehr als zwanzig Jahre überlebte, hatte sie ab dessen Tod auch mit ihrem Leben abgeschlossen. Sie hegte keine großen Pläne mehr für ihr Dasein. Stundenlang lag sie auf der Ofenbank und brütete über ihr Leben nach. Warum war alles so gekommen? Warum verlief ihr Leben auf eine derart harte und klägliche Weise? Unentwegt kaute sie an diesen Fragen herum, ohne eine schlüssige Antwort zu finden.
Meine Großmutter stammte aus Patriasdorf bei Lienz in Osttirol. Sie war das älteste von insgesamt acht Kindern. Ihre Eltern besaßen dort den Moarhof, ein ansehnliches landwirtschaftliches Anwesen. Sie war nicht nur das älteste der Kinder, sie schaute äußerlich auch völlig anders aus als ihre sieben Geschwister. Auch wenn darüber in der Familie nicht gesprochen wurde, dann war allen klar, dasss meine Großmutter einen anderen Vater hatte. Bis zum heutigen Tag hält sich das nicht unbegründete Gerücht, dass sie ein Kind von Sebastian Rieger sei, der es in späteren Jahren als Reimmichl zu schriftstellerischen Ehren gebracht hatte. Eine Zeitlang war er als Kooperator in Dölsach tätig, woher auch meine Urgroßmutter stammte und in dessen Pfarrwidum sie zu jener Zeit auch viel verkehrte. Von Urgroßmutter wurde darüber aber nie ein Wort fallen gelassen. Wenn es da etwas Geheimnisvolles gab, dann nahm sie ihr Geheimnis mit ins Grab.

Mit knapp zwanzig Jahren war meine Großmutter selbst Mutter von zwei ledigen Kindern, worauf sie von ihrer Mutter aus dem Haus gejagt wurde. Die beiden Kinder wurden zu Bauern gegeben, wo sie aufwuchsen. Meine Großmutter flüchtete nach Innsbruck und kam über die Arbeitsvermittlung als Zimmermädchen und Büglerin in den Gasthof Post nach Zirl .

 

Wir hatten auch eine sehr bescheidene Kindheit. Großmutter bezog die Mindestpension und diese reichte in den Sechzigerjahren kaum, auch nur für das Notwendigste nicht. Von ihren beiden Söhnen, die damals noch zuhause lebten, erhielt sie wenig Unterstützung. Stefan gründete eine Familie, musste selbst schauen, wie er über die Runden kam. Albert war ein gutherziger Mensch, nur gehörte er nicht zu den Erfindern der Tüchtigkeit und des Arbeitsfleißes. Selten stand er in einem aufrechten Dienstverhältnis, gerne besuchte er die einschlägigen Wirtshäuser. Meistens waren seine Taschen leer.
Wenn es für Großmutter überhaupt noch etwas gab, das ihr eine kleine Freude bereitete, dann war das ihr Garten: ihr Blumen- und ihr Gemüsegarten. Ansonsten verließ sie kaum das Haus, verbrachte ihre Zeit auf der Ofenbank, denkend. Wenn sie ins Dorf ging, dann am Abend in den Friedhof, um das Grab des Großvaters sauber zu halten und Kerzen anzuzünden. Die Hausarbeit war für sie eine lästige Bürde. Alles verdreckte zusehends. Hin und wieder kehrte sie mit dem Besen ein wenig zusammen, wusch das wenige Geschirr, kümmerte sich widerwillig um die Wäsche, heizte im Winter unter großen Seufzern den Bauernofen ein und damit hatte es sich. Beim Elektroherd war nur noch eine Platte intakt, aber diese genügte, denn Großmutter kochte ganz selten. Kühlschrank gab es keinen, sodass die Milch in den wärmeren Jahreszeiten stets sauer wurde. Auch gab es kein Warmwasser und im Winter fror andauernd das Wasser ab, obwohl wir es im Klo immer ein wenig laufen ließen. Zum Waschen benutzten wir eine Email-Schüssel mit jeder Menge Dellen. Alle zwei bis drei Wochen ging ich am Samstag Nachmittag in die Volksschule. Gegen den Betrag von wenigen Groschen konnte man dort die öffentlichen Duschen mit Warmwasser benützen.
Am oberen Ende des Innweges, wo dieser in die Hauptstraße mündet, ist der Gasthof „Schwarzer Adler“ und gegenüber war das Lebensmittelgeschäft von Frau Frankford. Den Einkauf dort  hatte stets ich zu besorgen. Dieser fiel aber immer so bescheiden aus, dass ich nur ganz selten einen Zettel benötigte, um nichts zu vergessen: Ein kleines Schwarzbrot, Butter und Milch. Das waren die Standards. Nur am Monatsanfang war der Einkaufszettel etwas üppiger. Trotz dieser bescheidenen Lebensweise reichte das Geld meistens nicht und ich musste bei Frau Frankford anschreiben lassen oder zu meinen Eltern gehen, um von denen einige Lebensmittel zu bekommen. Wenn es um das Anschreiben ging, hatte Großmutter gerne Ausreden parat, weil sie sich deswegen schämte. Einmal schickte sie mich zu Frau Frankford und ich musste dort wieder anschreiben lassen. Als Ausrede sollte ich, wie mir Großmutter auftrug, sagen, dass sie nur einen Fünfhundert Schilling Schein besitze, den sie mir aus Vorsicht nicht mitgeben wollte. Ich schien damals ein pfiffiges Bürschchen gewesen zu sein, denn zu Frau Frankford sagte ich folgendes: „Die Oma hat gebeten, den Einkauf anschreiben zu lassen, da sie nur einen Fünfhunderter zuhause hätte. Aber“, fügte ich altklug hinzu, „meine Großmutter hat ja gar keinen Fünfhunderter.“ Frau Frankford wurde von einem Lachkrampf geschüttelt und noch viele Jahre später, wenn wir uns trafen, erinnerte sie sich immer mit einem Schmunzeln an diese Episode.
Wenn Großmutter ausnahmsweise einmal etwas kochte, dann brannte das Essen zumeist an oder es ging die Milch über, weil sie mit ihren Gedanken immer ganz woanders war. Ansonsten ernährten wir uns in jenen Jahren vor allem von Butterbroten und Muckefuck. Oder von Zuckerbroten und Muckefuck. Wenn in unserem Haushalt einmal keine Butter vorhanden war, dann hatte Großmutter auch eine Lösung parat. Sie hielt  die Scheibe Brot kurz unter den Wasserhahn und bestreute das nasse Brot mit Zucker. Das Wasser sollte die Butter ersetzen und Großmutter meinte stets, dass diese feuchte Kreation ganz gleich wie ein Zuckerbutterbrot schmecken würde.

 

Wir hatten auch eine unheimliche Kindheit. Der Zweite Weltkrieg war zu dieser Zeit noch überall gegenwärtig. Zuhause, in den Wirtshäusern,  bei den Gesprächen. Erschreckenderweise wurde immer vom verlorenen Krieg gesprochen. Niemand in dieser Umgebung wäre auf die Idee gekommen, dass unser Land befreit worden wäre. Nein, das war überhaupt kein Thema. Stattdessen wurde heftig darüber diskutiert und darüber gestritten, was zur Niederlage geführt hatte. Wenn der Krieg nur noch etwas länger gedauert hätte, bis der Hitler die Wunderwaffe zur Verfügung gehabt hätte, hieß es stets. Mit der Wunderwaffe war die Atombombe gemeint.
Die Schuld an der Niederlage wurde nicht dem Hitler zugeschrieben, sondern den Hitlern, Leuten in seinem Umkreis, die ihn nach Strich und Faden verraten hätten. Immer wieder fuhren die Männer unserer Straße nach Mittenwald, Berchtesgaden oder nach Garmisch, wo es Kriegsveteranentreffen gab, von denen die Männer schwer betrunken zurück kamen.

Zirl war in den Dreißigerjahren eine Gemeinde mit ca. 3.000 Einwohnern und von diesen „blieben“ 124 im Krieg. Es gab kaum eine Familie, die nicht ein Mitglied durch den Krieg verloren hatte. Trotzdem konnte das die Menschen in unserer Straße nicht davon abbringen, vom verlorenen Krieg und wenn es den Hitler noch geben würde  oder unter dem Hitler hätte es das nicht gegeben zu sprechen. Natürlich hatte das auch mit Selbstschutz zu tun gehabt, denn wie sonst hätte man so eine Bürde, ein derartiges Schicksal ertragen können, ohne verrückt zu werden. Eine Form der Therapie bestand gewiss darin, dass sich alle in die Arbeit stürzten, um abgelenkt zu werden und gearbeitet und geleistet wurde damals von den Menschen in unserer Straße Übermenschliches. Neben der 48-Stunden-Arbeit, schufteten und rackerten alle in der Freizeit und an den Wochenenden, wobei die Devise für diese Schufterei lautete: unsere Kinder sollen es einmal besser haben. Allen in der Straße wurde unverschuldetermaßen die Jugend mit unvorstellbarer Brutalität zerstört, da konnten sie noch so oft vom verlorenen Krieg reden und Veteranentreffen besuchen und von der Kameradschaft im Krieg schwärmen, in ihrem Innern wussten sie, was ihnen angetan wurde, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollten und konnten. Sie waren hilflose Opfer, die ihrer Zeit ausgeliefert waren und keine Chance besaßen (außer den „Freitod“ zu wählen).
Meine Großmutter konnte  ganz außer sich geraten, auch noch in späteren Jahren, wenn das „Judenthema“ im Fernsehen auch nur angedeutet wurde. Man sollte endlich einen Schlussstrich darunter ziehen, sagte sie dann.
„Ich weiß in unserem Dorf von  keinem Juden, der hier gelebt hätte und deportiert worden wäre.“ Trotzdem steckte dieses unvorstellbare Unrecht, das diesen Menschen angetan wurde, tief in ihr, aber sie wollte davon nichts hören. Sie hätten davon nichts gewusst, sagte sie stets, und was hätten sie tun sollen, wenn sie etwas gewusst hätten. In ihrer Hilflosigkeit flüchtete sie sich in ganz abstruse, finstere Anschuldigungen an die Alliierten und sagte allen Ernstes: „Warum haben die Amerikaner und die Engländer die Juden nicht aufgenommen, wenn sie ihnen so sehr am Herzen gelegen sind?“. Sie hätten diese ja in ihren Ländern aufnehmen können. Außerdem gäbe es immer und überall Unruhen, wo die Juden leben würden. Ja, in solche Aussagen flüchtete man sich damals, um sich irgendwie zu rechtfertigen, um diese Schuld von sich zu weisen.

 

Wir hatten auch eine Kindheit an einer markanten Zeitenwende. Wie es Großmutter geschafft hatte, als eine der ersten im Innweg zu einem Fernsehapparat zu kommen, ist mir noch heute ein Rätsel. Ich vermute, dass sich Onkel Albert über längere Zeit einmal voll ins Zeug geworfen hatte, um seiner Mutter diese Freude zu bescheren. Onkel Albert war zwar ein guter Handwerker, mit jeder Menge an Talenten ausgestattet, jedoch mit seiner Arbeitsdisziplin stand es nicht zum Besten. Aber für den Fernseher musste er einmal eine Ausnahme gemacht haben. Jedenfalls änderte sich für Großmutter und mich mit dem Einzug des Fernsehapparates unser Leben fundamental. Damals gab es zwar nur einen Sender, das FS1, das im Vergleich zu heute  in einem sehr eingeschränkten Ausmaß Programm anbot. Die Ausstrahlung startete täglich um 18 Uhr mit einem Koch- oder einem Fremdsprachenkurs und um halb acht gab’s Zeit im Bild, dazwischen etwas Werbung und um Viertel nach acht einen Film, um dann anschließend mit der Bundeshymne und dem Testbild zu enden. Ausnahmen gab es nur am Mittwoch und am Wochenende, weil da am Nachmittag das Kinderprogramm gesendet wurde: Kasperltheater, Lassy, Fury etc. Als von den Programmdirektoren der Samstagnacht-Film eingeführt wurde, zumeist ein Western-Schinken aus den USA, war das für Großmutter und mich fast wie einen Feiertag. Ebenso wie im Sommer, wenn zur Zeit der Wiener Messe auch untertags Programm angeboten wurde. Besonders die Comedy Capers, Dick und Doof oder Popey the Sailor ließen unsere Herzen höher schlagen. Ein weiterer Höhepunkt waren damals die Olympischen Winterspiele in Innsbruck 1964, weil da den ganzen Tag über Sportübertragen in die Stube flimmerten und wir das Haus überhaupt nicht mehr verließen, da wir auch schulfrei hatten. Großmutter störte es überhaupt nicht, dass ich auch Filme mit ihr schaute, die für Jugendliche nicht geeignet waren. Das kümmerte sie nicht. Meistens handelte es sich da ja nur harmlose Kriminalfilme.

Zumeist waren die Höhepunkte des Fernsehprogramms ohnehin nur Unterhaltungssendungen wie die Löwingerbühne oder der Villacher Fasching oder die Samstagabend-Shows wie Musik ist Trumpf oder Einer wird gewinnen mit  Hans Joachim Kulenkampff. Natürlich gehörten auch diese– wie eigentlich überhaupt alles – zu unseren Pflichtsendungen. Oft waren auch mein Cousin Erwin und mein Freund Franz aus der Nachbarschaft bei Großmutter, um fernzusehen. Wenn bei den Musikeinlagen Opernsänger oder Operettensängerinnen auftraten, dann nutzten wir diese Zeit immer, um vor die Haustür zu stürmen, wo eine Straßenlampe den Platz erleuchtete, und wir einen kurzen Fußball-Kick einlegten. Arien und Opern interessierten uns wirklich nicht. Wenn dann diese Schreihals-Gesänge vorbei waren, dann rief uns Großmutter in die Stube: „Es geht wieder los“, meinte sie und wir eilten in die Stube zurück.

Einmal brachte mich das Fernsehen in eine blöde Zwickmühle, für die ich in meiner kindlichen Einfalt dann glücklicherweise doch eine Lösung fand. Immer wieder traten zwei Tänzerinnen auf. Es waren Alice und Ellen Kessler, in die ich mich unsterblich verliebt hatte und wo ich die Stube nicht für einen Kick verließ, wenn diese ihr Können zeigten. Ich war so heftig in diese Zwillinge verliebt, dass ich in meiner unschuldigen Aufrichtigkeit auch beide heiraten wollte. Das bereitete mir aber einiges an Kopfzerbrechen. Wie sollte das möglich sein? Beide auf einmal konnte ich nicht heiraten, weil das unmoralisch gewesen wäre. Das war mir klar. Schließlich kam mir die rettende Idee, dergestalt, dass ich zuerst Alice und dann später Ellen ehelichen würde, damit beide zu ihrem und natürlich auch zu meinem Glück kamen.

 

Wir hatten auch eine Kindheit, wo die Vergangenheit unserer Vorfahren oft wie kantige, zumeist finstere Holzschnitzarbeiten erschienen. Meine Urgroßmutter heiratete ihren Mann, als sie bereits schwanger war, der aber sehr wohl wusste, dass das Kind nicht von ihm war. Als mir die Geschichte vom Kuckusei des Sebastian Rieger, alias Reimmichl bekannt wurde, verglich ich einmal einige Fotos von ihm und meiner Großmutter und die beiden wiesen tatsächlich große Ähnlichkeiten in den Gesichtszügen aus. Obwohl sich Reimmichl nie um sein mögliches Kind gekümmert hatte, war dies nicht der Grund, weshalb meine Großmutter nichts mit der katholischen Kirche am Hut hatte.
Meine Großmutter besuchte die Pflichtschule in Thurn, oberhalb von Lienz. Patriasdorf war damals noch nicht von Lienz eingemeindet worden. Darum mussten die Kinder dieses Weilers nach Thurn in die Schule. Von Patriasdorf benötigte man gut eine Stunde, um in die Schule zu kommen. Im Winter entsprechend länger. In der Schule herrschte das Regiment einer bigotten Lehrerin und eines sadistisch veranlagten Priesters. Meine Großmutter war als Kind sehr klug und zu ihrem kindlichen Entsetzen machte sie bald zwei sonderbare Entdeckungen. Die erste war ein verstecktes Weinfass, obwohl die Lehrerin als Obfrau des Antialkoholkomitees fungierte und in der Öffentlichkeit vehement gegen den Alkohol wetterte und zweitens spürte sie die Lehrerin und den Pfarrer bei verfänglichen Intimitäten auf und bekam auch mit, wie sich die beiden am versteckten Weinfass bedienten. Mit einem Wort, sie benahmen sich, wie es aufrechte Katholiken nicht selten zu tun pflegen. Natürlich musste sie dieses Geheimnis für sich behalten, weil ihr diese Wahrnehmungen von den Erwachsenen nicht abgenommen worden wären. Diese beiden Tatsachen hätte meine Großmutter unter Umständen noch irgendwie einordnen können, aber die Brutalität, wie diese beiden Personen gegen die ärmsten der Kinder vorgingen, sollte ihre lebenslange Abneigung gegen die katholische Kirche begründen. Oft erzählte sie mir von ausgerissenen Haarbüscheln oder von blutig geschlagenen Fingern, zumeist wegen Kleinigkeiten und immer nur gegen die schwächsten und die ärmsten, nie zum Beispiel gegen meine Großmutter, die ja die Tochter des Moarhofes war. Dennoch gingen meiner Großmutter damals diese Ungerechtigkeiten derart unter die Haut, dass sie ihr Lebtag von den "Schwarzkutten" redete.

Meine Großmutter lag oft stundelang auf der Ofenbank und sinnierte. Sie hatte ein hartes Leben hinter sich und sie konnte einfach nicht begreifen, warum ihr Leben dermaßen unglücklich verlaufen war. Der Bauernhof meiner Urgroßeltern in Patriasdorf war weitum die größte Landwirtschaft und zeitweise verrichteten bis zu zehn Knechte und Mägde am Moarhof ihren Dienst. Nachdem meine Großmutter von ihrer Mutter verjagt wurde, flüchtete sie zuerst nach Innsbruck. Bei der dortigen Arbeitstellenvermitlung in der Domgasse in Innsbruck bekam sie eine Anstellung als Zimmermädchen und Wäscherin im Hotel Post in Zirl vermittelt. Der leibliche Vater ihrer beiden Kinder folgte ihr ebenfalls nach Innsbruck, aber sie wolte von ihm nichts mehr wissen, nachdem sie ihn einmal mit einer anderen erwischte. 

In Zirl lernte sie sehr bald meinen Großvater kennen, der ihr heftig nachstellte. Großmutter war sehr misstrauisch, aber eines Tages konnte er sie überden, mit ihm nach Hause zu gehen. Sie bekam nicht nur seine schönen Schnitzarbeiten zu sehen, sondern sie brachte auch neun Monate später ihren Sohn Hermann zur Welt. Es wurde geheiratet, obwohl die Schwiegereltern und die einzige Schwester meines Großvaters über diese Ehe mehr als unglücklich waren. Die Gründe dafür kann man ohne weiteres nachvollziehen. Danach kam meine Mutter zur Welt. Das war im Februar 1929. Meine Großeltern hatten eine kleine Untermietwohung bei einem Bekannten meines Großvaters. Der Winter 1929 war, was die Kälte anlangte, ein Jahrhundertwinter. Es war so kalt, dass bei der Geburt das Wasser im Waschbecken mit einer Eisschicht bedeckt war. Es hatte damals Temperaturen bis zu dreißig Grad Minus, sodass sogar der Inn zufror, und dass auch die Exkremente im Plumpsklo, das sich im Halbstock befand, einfroren, im Laufe des Winters einen harten Stock bildeten und im Frühjahr, als es zu tauen begann, dann die ganze Scheiße das Stiegenhaus ins Parterre hinunter rann.
Nach meiner Mutter gab es drei Jahre Pause, ehe zuerst Josef und dann Albert und dann im Jahr 1938 der Nachzügler Stefan zur Welt kamen. Zu der Zeit lebten sie im Baumgartner Haus in der Schöngasse. Dort waren mehrere arme Familien untergebracht, wobei es zum Glück der Besitzer dieses zweistöckigen Zinshauses mit der Miete nicht so genau nahm. Er sah ja, dass man diesen Leuten nichts nehmen konnte, aus dem einfachen Grund, weil sie nichts hatten.
Die Wohnung meiner Großeltern bestand aus Küche, Kabinett und einem Schlafzimmer. Großvater war in den Dreißigerjahren meistens arbeitslos und zählte auch zum Heer der Ausgesteuerten, das hieß, dass er keine Arbeitslosenunterstützung mehr erhielt. Nebenbei verdiente er sich als Krippen- und Kruzifixschnitzer etwas für den Lebensunterhalt. Aber wer hatte damals schon die Möglichkeit für derartige Dinge Geld auszugeben? Die Leute, die in unserem Dorf lebten, jedenfalls kaum. Dass die Familie meiner Großeltern dennoch überleben konnte, so erzählte es mir meine Mutter in späteren Jahren oft, hing mit der Großherzigkeit ihrer Großmutter zusammen. Diese betrieben eine kleine Landwirtschaft, waren mehr oder weniger Selbstversorger und davon zehrte die ganze Familie. Immer wieder wurden die Kinder über die zwei Gassen zu den Großeltern geschickt, um Milch zu holen oder Mehl oder Butter oder Eier oder Kartoffel oder Salat oder Gemüse. So kam die Familie meiner Mutter durch diese Hungerjahre. Für meine Mutter war ihre Großmutter ohnehin eine Heilige, denn häufig musste sie die Lebensmittel heimlich vor ihrem Mann der Familie zukommen lassen. Er hatte wenig Verständnis für die Nöte seines Sohnes und dessen Familie, von dem er wegen seiner künstlerischen Neigungen nicht allzuviel hielt.
Seit seiner Kindheit hatte mein Großvater mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. Dreimal überstand er eine Lungenentzüngung, mehrmals Mittelohrentzüngungen und das alles zu  einer Zeit, als es noch kein Penicillin gab.
Mein Großvater war trotzdem ein sehr lebenslustiger Mensch. Er war als Sänger ein Naturtalent und immer wieder kehrten Musiker vom Tiroler Landestheater bei ihm ein, um mit ihm zu singen und sich zu unterhalten. Als Krippenschnitzer wurde er besonders für seine geschnitzten Schafe geschätzt. Er wurde weitum als der beste Schafschnitzer bezeichnet, weil er diese Tiere in allen Stellungen und mit einem Gesichtsausdruck schnitzen konnte wie kein zweiter. Auch trank er gerne Schnaps, was bei den Krippenschnitzer üblich ist. Im Gasthof Hirschen, einem Landgasthaus, in dem mein Großvater gerne mit seinen Kollegen verkehrte, bezahlte er seine Zechen häufig mit Holzfiguren für die Weihnachtskrippe. Für ein Holzschaf erhielt er einige Budel Schnaps, sodass der Wirt in späteren Jahren auf nicht weniger als 130 Schafe meines Großvater stolz sein konnte. Nach dem Krieg, oder wie man bei uns sagte, nach dem Zusammenbruch, als zuerst amerikanische und später französische Soldaten unser Dorf besetzten, machte mein Großvater eine Zeitlang ein hervorragendes Geschäft. Vor allem die Amerikaner kauften gerne holzgeschnitzte Figuren als Souvenirs und bezahlten im Tauschhandel mit Naturalien, sodass damals die Küche meiner Großeltern einen ungekannten Aufschwung nahm.
Knapp ein halbes Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, traf meine Großeltern ein schwerer Schicksalsschlag. Der älteste Sohn, der bei den Innsbrucker Stadtwerken als Elektriker beschäftigt war, kam in den Stromkreis und verstarb wenige Stunden nachher im Krankenhaus. Hermann war ein schwieriger Charakter. Während des Krieges hatte er ein Verhältnis mit einer Frau im Baumgartner Haus, deren Mann im Krieg war. Unglücklicherweise wurde sie schwanger. Daraufhin drehte Hermann durch und meldete sich freiwillig bei der SS, wo er aber abgelehnt wurde, weil sein Aussehen scheinbar asiatische Züge aufwies, also nicht den arischen Vorschriften entsprach. So wurde er zwar für die SS abgelehnt, im letzten Kriegsjahr  jedoch noch eingezogen. Zum Glück oder wie immer man das auch nennen mag, hatte seine Geliebte einen Abortus. Ihr Mann erfuhr davon nichts, sodass die ganze Geschichte keine weiteren tragischen Auswirkungen hatte.
Der Tod von Hermann war für meine Mutter ein Ereignis, das sie noch jahrelang schwer belastete. Als der Unfall passierte, stand sie bereits in Verbindung mit meinem Vater. Sie wollte damals aber kein festes Verhältnis mit ihm eingehen,  weil sie auch in andere Richtungen Ausschau hielt. Jedenfalls war für das bevorstehende Wochenende geplant, dass sie dieses mit dem Vater und Freunden auf der Alm meiner Großeltern verbringen sollten. Meine Mutter wusste, was dort passieren würde. Sie hatte noch keine intimen sexuellen Verhältnisse zu einem Mann. Aber ihr war klar, was ihr an diesem Wochenende bevorstehen würde. Sie überlegte hin und her, was sie anstellen könnte, um nicht auf die Almhütte gehen zu müssen. Sie wünschte sich, dass etwas passieren sollte, um das zu verhindern. Zwei Tage vor diesem Wochenende verunglückte ihr Bruder tödlich und meine Mutter plagte noch jahrelang die Vorstellung, dass sie Mitschuld an dieser Katastrophe tragen würde.

 

Wir erlebten auch eine Kindheit, wo körperliche Defekte etwas waren, worüber man sich häufig  lustig machte. Die ersten beiden Schuljahre hatte ich eine Klosterschwester zur Lehrerin. In meiner Kindheit gehörte ich zu den Kleinsten in der Klasse. Auch war ich als Einziger Brillenträger und schielte zudem heftig. So war es naheliegend, dass ich den Spitznamen "Brillenschlange" verpasst bekam und während der kälteren Jahreszeiten andauernd gefragt wurde, vor allem von Erwachsenen, ob ich schon meine Winterfenster eingehängt hätte. Schwester Katharina schien Mitleid mit mir zu haben und sicher spielte auch mein, zumindest für damalige Zeiten, völlig unüblicher Name, Elias, eine Rolle. Sie war eine sehr strenge und gefürchtete Lehrerin, nur auf mich warf sie ein wohlwollendes Auge. Sie nahm mich stets in Schutz, wenn sich andere wegen meiner Brillen oder wegen meines Schielens über mich lustig machten. Sie ließ mir sogar eine besondere Obhut angedeihen. Manchmal behielt sie mich über Mittag im Schulgebäude, besorgte mir ein Essen und half mir bei den Hausaufgaben.
Ich war für sie ein armes Kind, einerseits durch meine Fehlsichtigkeit und auch wegen meines familiären Hintergrunds.
Schwester Katharina war zweimal in Lourdes bei einer Wallfahrt. Von dieser Reise brachte sie einige Flaschen heiliges Wasser mit und jeden Freitag vor Schulschluss rieb sie mir damit meine kranken Augen ein, damit diese gesund würden. Nur leider half das nichts. Mir blieben meine „Stielaugen“, wie ich immer wieder zu hören bekam. Öfters war ich bei einem Augenarzt, und irgendwann entschloss man sich zu einer Augenoperation an der Innsbrucker Universitätsklinik. Ich hatte ein Bett in der Kinderstation. Als ich nach der Operation aufwachte, waren beide Augen verklebt. Am folgenden Tag wurde eine Augenbinde entfernt und wieder zwei Tage später auch die zweite. Noch heute erinnere ich mich an diesen Moment, denn ich erlitt eine Panickattacke, als ich auf der Decke, wo einige Fische angemalt waren, plötzlich alle Fische doppelt sah. Die Ärzte versuchten mich zu beruhigen, sagten, dass sich das wieder einpendeln würde. Aber es pendelte sich nicht wieder ein. Seit  jenem Tag hatte ich mit diesen Doppelbildern zu leben. Damals wurde noch eine weitere Operation in Betracht gezogen, aber schließlich nahm man davon Abstand.
Ich musste mich damit abfinden, zumal dieser Defekt zu Hause bei meinen beiden Onkeln eher für Erheiterung sorgte, denn für Mitgefühl. Es hieß nur lachend und lapidar: "Was bist du bloß für ein Glückspilz. Wenn du einen Zehner in der Geldtasche hast, dann glaubst du einen Zwanzger zu besitzen."
Mit meinen Doppelbildern wurde ich nicht ernst genommen und darum war es besser, nicht davon zu sprechen und diese zu verdrängen, soweit das möglich war. Das gelang mir auch ausgezeichnet, denn als ich mit achtzehn den Führerschein machte, war das überhaupt kein Problem. Ich selbst wäre nicht einmal auf die Idee gekommen, meinen Makel beim Amtsarzt zu erwähnen, aber nicht weil ich etwas verheimlichen wollte, sondern weil die Doppelbilder für mich ganz normal waren. Gott sei Dank hatte man damals noch nicht solche strengen Untersuchungen wie heute. Heute würde ich mit Sicherheit keinen Führerschein mehr bekommen.

 

Wir hatten auch eine Kindheit,  wo wir miterlebten, wie der Wohlstnd langsam in unser Dorf Einzug hielt. Der Ehnbach, der seine Quellen im Karwendelgebirge hat, kommt durch eine wunderbare Schlucht ins Inntal und mündet schließlich im Inn. An der Mündung waren kleinere Sandbänke, vor denen uns die Erwachsenen stets warnten, wo wir aber im Sommer herrliche Spielplätze vorfanden. In den Fünfzigerjahren wurde damit  begonnen, den Inn zu begradigen und mit riesigen Felsblöcken einzudämmen, da es in den Sommermonaten oft zu Hochwasser und Überschwemmungen der Aufelder kam. Durch die Regulierung mit riesigen Felsblöcken, die wie seitliche Staumauern funktionierten, sollten die Überschwemmungen der Vergangenheit angehören. Hinter den Staumauern bildeten sich Tümpel und Teiche mit Grundwasser, so auch bei uns entlang des Inns. Damals begann ein neues gesellschaftliches Phänomen Platz zu greifen, das mit dem schrittweisen Einzug des Wohlstandes zusammenhing. Immer häufiger wurden die Menschen mit Dingen konfrontiert, die man nach dem Gebrauch entsorgen musste. Konservendosen, Autoreifen, auch Lebensmittel, die halb verrottet waren, alte Polstermöbel und so weiter. Für all diesen überflüssigen Müll benötigte man einen Platz zur Endlagerung. Damals liefen die Uhren, was den Umweltschutz anlangte, noch ein wenig anders und man kam auf die Idee, den anfallenden Müll hinter den Regulierungsmauern zu verstauen und schlussendlich zuzuschütten. In meinem Heimatdorf hat es bis in die Fünfzigerjahre keine Müllabfuhr gegeben. Diese wurde erst damals installiert und da brauchte man eben einen Ort, wo man das ablagern konnte. (Heute befindet sich übrigens der Zirler Hundeabrichtplatz auf dieser ehemaligen Müllhalde).
Für uns Kinder war die neue Müllhalde ein weiteres Eldorado. In der Mull, wie wir das Areal nannten, wurden auch Autowracks abgelagert und einige größere Jungs kamen auf die Idee, von denen die Autodächer mit Eisensägen abzusägen und diese verwendeten wir dann als Kampfboote für die größten Seeschlachten, die mein Heimatdorf je erlebt hatte. Natürlich gab es dabei Verletzte, zumeist mit Schnittwunden, aber ertrunken ist dabei keiner. Für uns war die Mull ein Abenteurerspielplatz und für einige leistete die Mull auch einen Beitrag zur Ernährung: Außerhalb von Zirl betrieb eine große Lebensmitelkette ihre Niederlassung und von dort wurden oft Waren, die für den Verkauf nicht mehr entsprechend waren, entsorgt.
Einmal gab es Probleme mit der Polizei, weil jemand eine Anzeige erstattet hatte.  Ältere Buben kreuzten häufig mit Luftgewehren auf und machten Jagd auf Ratten und andere Tiere, was weiter niemand störte, aber wir gingen auch auf die Jagd von Fröschen und Kaulquappen, die wir mit Holzprügel und mit langen Stangen erschlugen. Für mich hatte diese Anzeige weiter keine Auswirkungen, weil sie weder meine Großmutter noch meine beiden Onkels interessierte. Für einen anderen Jungen, für Horst, bedeutete das aber ein Mullverbot. Es wurde ihm von seinen Zieheltern verboten, die Mull weiterhin aufzusuchen. Zumindest vorderhand. Zu der Zeit wurden in Zirl einige alte Häuser, die einer Umfahrung weichen mussten, abgerissen. Der Ziehvater von Horst war gerade dabei, sein kleines Haus im Innweg etwas zu vergrößern und als er bemerkte, dass die Ziegel der abgerissenen Häuser in der Mull landeten, wurde für Horst das verhängte Mullverbot sofort aufgehoben und er musste mit einem kleinen Leiterwagen in die Mull fahren, Ziegelsteine aufladen, sie nach Hause bringen, dort mit einem Hammer die Mörtelreste von den Ziegeln entfernen und sich dann wieder aufmachen, um erneut einen Wagen voll Ziegelsteine nach Hause zu bringen. So steht heute noch dieser Anbau aus den Ziegelsteinen, die für Horst den Vorteil mit sich brachten, dass er wieder in die Mull durfte.

Wir hatten auch eine Kindheit, die in manchem an die Abenteuer von Huck und Tom erinnerten. Im Äuele lebten keine Größen der Gesellschaft, sondern ganz einfache Menschen. Die Mütter waren in der Regel Hausfrauen, brachten die Kinder zur Welt, kümmerten sich um diese, so weit als möglich, während die Männer das Geld nach Hause brachten. Was fast alle Männer der Straße miteinander verband, war der Hang zum Alkohol. Um die Grauen des Krieges einigermaßen zu überstehen, flüchteten sich fast alle Männer in den Alkohol und in die Arbeit, denn die Männer der Straße soffen, schufteten und rackerten nicht nur während der Woche, sondern auch an den Wochenenden. Sie errichteten ihre Einfamilienhäuser oder sie pfuschten auf anderen Baustellen. Natürlich gab es da auch Ausnahmen, aber im Regelfall galt das für alle Männer unserer Straße.

Zwei Häuser weiter von uns aus gesehen, lebte die Familie Weber. Die alte Frau Weber hatte einen riesigen Kropf und die arme Frau röchelte beim Atmen dermaßen, dass einem Angst und Bang wurde, wenn man sie schon von weitem hörte. Mit ihrem Mann saß sie gerne auf der Holzbank vor dem Haus. Sie hatten zwei Töchter, die beide ein hartes Schicksal zu ertragen hatten. Martha war eine verbitterte, einsame Frau, die in späteren Jahren kaum noch Kontakt zu anderen Menschen pflegte. Sie grüßte kaum jemand, sie redete mit fast niemand mehr und noch heute sehe ich sie bei unserem Haus vorbeigehen, wobei sie jahraus jahrein einen dunklen Staubmantel trug und eine lederne Einkauftasche in ihrer Hand hielt. Häufig schüttelten Menschen über sie den Kopf, wenn der "Staubmantel" an ihnen vorbeieilte. Ihre Menschenscheu hing mit ihrem ledigen Sohn zusammen, den sie als ganz junges Mädchen zur Welt brachte. Werner war ein erfolgreicher Musiker, schaute gut aus, spielte in verschiedenen Tanzlokalen und fuhr sogar eine Zeitlang einen Jaguar, was die Sensation des Innweges war. Von ihm hieß es, dass er als Musiker groß Karriere gemacht hätte, wenn er nicht ganz überraschend an einer Lungenentzündung verstorben wäre, wobei auch gemunkelt wurde, dass da noch andere Dinge im Spiel gewesen wären.

Die ältere Tochter im Haus Weber hieß Berta. Meine Großmutter erzählte mir öfters, dass Berta ein lebenslustiges, quietschlebendiges Kind und als Jugendliche ein bildhübsches Mädchen war. Großmutter erinnerte sich, dass sie als Teenager nicht nur einen, sondern gleich mehrere Handstandüberschläge oder Wagenräder geschlagen hatte. Sie strotzte vor Fröhlichkeit und Lebensenergie. In jungen Jahren wanderte sie nach England aus, um dort ihr Glück zu versuchen. Jahre später kehrte sie mit vier Kindern und einem polnischen Trunkenbold als Ehemann in den Innweg zurück und bewohnte den Dachboden im Weberhaus. Meine Großmutter verstand die Welt nicht mehr, als sie sah, was aus der wunderbaren Berta geworden war. Berta hatte in Liverpool gelebt, wo sie ihren Mann aus Polen, der dort als Bergarbeiter arbeitete, kennenlernte. Der Polack, wie er sehr bald genannt wurde, ging nur unregelmäßig einer Arbeit nach und wenn, dann investierte er den Großteil des Einkommens in alkoholische Getränke. Regelmäßig kam es zu wilden Schreiduellen und wüsten Beschimpfungen und Drohungen, wo sie sogar mit einer Hacke aufeinder los gingen und sich gegenseitig mit dem Umbringen bedrohten. So eine Umgebung ist für Kinder nicht unbedingt der ideale Ort, um eine glückliche Kindheit zu verbringen, sodass die beiden jüngeren Töchter in das Heim in Martinsbühel, nahe Zirl, gebracht wurden, das von Klosterschwestern geleitet wurde und wo sie auch nicht unbedingt das Paradies auf Erden erlebten. Vielleicht erwischten sie es doch ein weniger besser als zuhause. Aber das Leben ist leider Gottes vom ersten Tag der Geburt an nichts Weiteres als eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Die beiden älteren Kinder blieben daheim, wobei andauernd jemand von der Jugendwohlfahrt und dem Sozialamt ins Haus kam, die notdürftig etwas dafür sorgten, dass die Familie nicht völlig unterging.
Alle vier Kinder waren eher klein und schmächtig. Jan war der Älteste und schien in der Art ganz nach seiner Mutter geraten zu sein. Obwohl er nicht der Kräftigste war, war er ein Großmaul der besonderen Sorte. Er ließ sich verbal nie unterkriegen, auch wenn er andauernd nicht nur zuhause, sondern auch in der Schule und von anderen Buben Prügel bezog. Jan hatte den Spitznamen "Engländer". Schon nach kurzer Zeit war der Engländer im ganzen Dorf bekannt. So erzählte er zum Beispiel, als die Beatles auch bei uns bekannt wurden, dass er alle vier Pilzköpfe aus seiner Zeit in Liverpool persönlich kennen würde und dass er mit John Lennon noch immer in Kontakt wäre und dass ihn dieser auch eines Tages besuchen werde. John Lennon im Innweg.
Jan erlangte auch als großer Mullkaiser im ganzen Dorf Bekanntheit, weil er dort den Großteil seiner Zeit verbrachte und wo er sich vorwiegend von weggeworfenen Lebensmitteln ernährte, die die Lebensmittelkette dort ablagerte. Die meiste Zeit besuchte Jan die Schule nicht und als einmal ein ganz neuer junger Lehrer in seinem pädagogischen Eifer wegen dem Engländer bei dessen Eltern vorsprechen wollte, sich nach der Adresse erkundigte, mit seinem Rad dorthin fuhr, sich in den Dachboden vorarbeitete und sah, was sich da abspielte, ergriff er sofort die Flucht und verstand sehr gut, warum Jan die Schule nicht besuchte und sich wenig um diese Dinge kümmerte.
Einmal jedoch sorgte Jan für große schulische Aufmerksamkeit unter dem Lehrkörper, denn er verfasste im Deutschunterricht einen Aufsatz mit freier Themenwahl unter folgendem Titel: Die Mull, meine Heimat. Der einseitige Text war wegen der Rechtschreibfehler zwar kaum lesbar, war aber vom soziologischen Standpunkt ohne Zweifel ein Meisterwerk und noch heute hört man allenthaben Leute in Zirl von dieser Glanzleistung der Erzählkunst schwärmen. Leider ist dieses Meisterwerk in Verlust geraten.
Auch war der Engländer im ganzen Dorf immer die erste Adresse, wenn irgendwo etwas gestohlen wurde oder etwas fehlte. Reflexartig hieß es, da steckt der Engländer dahinter. So erfüllte er auch die Sündenbockfunktion für das halbe Dorf, wenn es um kleinere Delikte ging, wenn ein Zigarettenautomat,  ein Kaugummiautomat oder ein Fahrrad aufgebrochen wurde, oder sonst etwas fehlte.
Jan war auf jeden Fall stes für eine Überraschung gut. Einmal sorgte er für ganz große Aufregung. Es ging um einen vermeintlichen Goldfund, den Jan entdeckt hatte. Jedenfalls verbreitete sich diese Neuigkeit in Windeseile, sodass sogar unsere Dorfgendarmen, zwei gutmütige und dem Alkohol verfallene Beamte, die ansonsten nicht zu den Schnellsten zählten, sofort zur Stelle waren. Sie nahmen Jan etwas in die Mangel, nachdem der heimische Uhrmacher Frick, ein älterer Herr, nicht ausschließen konnte, dass es sich tatsächlich um einen wertvollen Fund handeln würde. Zuerst vermuteten sie, dass Jan auf dem Mullplatz den Goldschatz gefunden hätte, aber Jan bestritt alles und wollte mit der Wahrheit nicht herausrücken. Schließlich fuhren die Beamten mit Jan nach Innsbruck ins Kommisariat, wo von einem Fachmann festgestellt wurde, dass es sich bei diesem Fund nicht um ein wertvolles Edelmetall, sondern um Katzengold handeln würde. Jedenfalls lachte das ganze Dorf über Jan und seine Goldgräbergeschichte und über die armen Dorfgendarmen, die ihm da aufgesessen waren.

Heute treffe ich manchmal Jan noch in einem Zirler Wirtshaus und wenn er hier auftaucht, dann geht es immer hoch her, denn er ist noch immer derselbe Lügenbaron wie als Jugendlicher. Trotz seiner harten Kindheit hat er sein Leben gut gemeistert. Er erlernte zwar keinen Beruf, arbeitete viele Jahre als Hilfsarbeiter in einer Schlosserei und dann im Zirler Steinbruch. Zum Glück lief er einer handfesten Frau über den Weg, die um einen Kopf größer war als er und die von einem Bauernhof stammte. Sie betrieben neben dieser kleinen Landwirtschaft auch ein Erdbeer- und Gemüseland, wo Jan inzwischen mitarbeitete. So wurde aus ihm ein Erdbeer- und Gemüselandbauer.

Seine drei Geschwister kamen mir all die Jahre  immer wieder in den Sinn. Einmal traf ich Halina und sie erkannte mich sofort, aber wir fanden keine Zeit, uns länger zu unterhalten, denn sie hatte einen finsteren, dunklen Begleiter an der Seite, angeblich ihr Partner, und von anderer Seite hörte ich später, dass sie inzwischen in einer Sozialwohnung in Innsbruck mit vier Kindern leben würde.
Wenn ich an die beiden anderen Mädchen denke, dann ist das immer mit einer gewissen Traurigkeit verbunden. Ich habe sie völlig aus den Augen verloren, aber Jan erzählte mir einmal, dass sie beide zusammen in der Stadt in einer kleinen Wohnung leben würden und beide als Künstlerinnen, als Malerinnen in einer betreuten Wohngemeinschaft tätig wären. Wie gesagt, bei Jan musste man vorsichtig sein, denn bei ihm sind Wahrheit und Phantasie nicht immer deckungsgleich. Wenn ich mich an die beiden erinnere, ihre Namen sind mir auch entfallen, dann sehe ich sie gemeinsam, Hände haltend, mit verängstigten Augen und blassem Gesicht in ihren ausgewaschenen Kleidern dastehen.
Berta und dem Polacken bin ich in späteren Jahren öfters in Innsbruck begegnet. Sie lebten mehr oder weniger auf der Straße. Sie erkannten mich nicht mehr, auch wenn ich sie stets grüßte. Inzwischen sind beide tot und meine letzte Erinnerung ist, als ich einmal den Polacken mit Tiroler Hut traf, auf dem zahllose Anstecker drauf waren.

Die Häuser im Innweg lagen größtenteils entlang des Ehnbaches, zwischen diesem und der damals noch nicht asphaltierten Schotterstraße. Eine der wenigen Ausnahmen bildete das Haus von Josefine Kluibenschädel, schräg unterhalb unseres Hauses, die als eine der wenigen ihr Anwesen jenseits der Straße hatte. Den Namen Josefine kürzten alle zu Fini ab und es sagte auch niemand Kluibenschädel, sondern Fini war im ganzen Dorf unter dem Hausnamen Buttermaus bekannt, also die Buttermausn Fini. Zu diesem Spitznamen soll ihre Familie gekommen sein, da sich einmal in einem Butterkübel eine Maus befunden haben sollte. Darum Butter - Maus.
Das Haus von Fini war ohne Zweifel eines der schillerndsten in der ganzen Straße, sowohl im Erscheinungsbild als auch von deren Bewohnern her. Das Haus war in einem ähnlichen Zustand wie das unsere, es wurde nie richtig fertiggestellt. Es war außen ohne Verputz, sodass man die roten Ziegel sehen konnte. Auch sonst fehlte es an allen Ecken und Enden. Mehr oder weniger eine dauerhafte Baustelle. Im Gegensatz zu uns hatte Fini aber rund um das Haus viel Platz und dahinter, Richtung Osten, gehörte ein ansehnlicher Acker zu ihrem Besitz. Fini war nie verheiratet, hatte vier Kinder von vier verschiedenen Vätern. Sie hatte ihren Nachwuchs alleine groß gezogen und wie sie das schaffte, war eine Meisterleistung. Sie arbeitete als Putzfrau, wo sie gewiss über kein großes Einkommen verfügte und damit und mit dem Ertrag ihres Ackers und Kleinviehs musste sie alle über die Runden bringen. Vom Acker bezog sie Kartoffel, Kraut, Tomaten, Rhabarbar und was sie sonst noch alles anbaute und in einer wackligen Holzbaracke hielt sie sich Hühner, Gänse, Hasen und auch zeitweise einige Schafe.
Ihr damaliger Lebenspartner war ein gestrandeter Theologiestudent, der dem Alkohol verfallen war. Fini abreitete bei der Firma Hitthaler & Trixl, wo sie die Unterkünfte der Arbeiter, die zum Großteil aus dem damaligen Jugoslawien kamen, reinigte und sauber hielt. Ihr Lebenspartner hatte eine Zeitlang ebenfalls dort gearbeitet und so hatten sie sich kennengelernt. Inzwischen hatte Helmuth aber alle körperlichen Tätigkeiten mehr oder weniger eingestellt und sich inzwischen mehr auf die geistigen Dinge des Daseins verlegt.
Fini hatte nicht gerade den besten Ruf in unserer Straßen, aber nicht nur wegen ihrer familiären Verhältnisse, sondern eher deshalb, weil sie eine laute, schrille Person war, der kein Schimpfwort fremd war. Zudem wurde ihr unterstellt, dass sie es mit der Wahrheit, was den Inhalt ihrer Erzählungen und Geschichten betraf, nicht sehr genau nahm. Auch ihr Haus, ihr Garten, ihr Acker, alles war nicht unbedingt so, wie man es sich erwartete, zumindest von Menschen, die etwas auf Ordentlichkeit hielten. Aus heutiger Sicht war es ein Kleinod, vielleicht etwas dreckig, ein Durcheinander,  wild und von südlicher Lebendigkeit wie man sie jetzt in unseren Gärten und Häusern kaum noch findet, zumindest nicht mehr im Innweg.
Dieses kleine einstöckige Haus beherbergte nicht weniger als elf Personen, vier Kinder und sieben Erwachsene. Wo die alle untergebracht waren, ist mir noch heute ein Rätsel. Ich verkehrte sehr wenig in diesem Haus, weil ich mich dort alles andere als wohlfühlte. Mich verband zwar eine Freundschaft mit Franz, dem jüngsten Kind von Fini, der in meinem Alter war. Aber der intensive säuerliche Geruch, der wahrscheinlich mit den zahllosen Katzen in diesem Haus zusammenhing, stieß mich ab. Außerdem war mir der Stiefvater von Franz unheimlich, obwohl er im Grunde ein harmloser Typ war. Einmal, und daran erinnere ich mich lebhaft, lag er mit eingegipsten Bein im Bett und daneben stand eine Milchflasche, in die er hineinpinkelte. Diese Flasche mit dem Urin ekelte mich dermaßen, dass ich das Haus eine Zeitlang überhaupt nicht mehr betrat. Diese Flasche musste der arme Franz oft entleeren. Jedenfalls habe ich seither ein gestörtes Verhältnis zu Milch in Glasflaschen.
Vor allem hatte ich in diesem Haus großen Respekt, fast schon Angst, vor Charlotte. Charlotte war etwas jünger als ich, aber das arme Mädchen hatte, durch einen Sauerstoffmangel bei der Geburt, eine schwere geistige und körperliche Behinderung davongetragen. Sie war Spastikerin, zudem sehr aggressiv, besaß viel Kraft und wenn man ihr in die Hände fiel, musste man schauen, wie man sich aus dieser Umklammerung wieder befreien konnte.
Der Stiefvater von Franz war ein seltsamer Vogel. Er stammte aus Ampass, nahe Hall. Dort hatte er das Gymnasium absolviert, nachher angeblich kurz Theologie studiert, ehe er dem Alkohol verfiel. Irgendwann landete er als Hilfsarbeiter bei der Firma Hitthaler & Trixl. Inzwischen ließ er sich von Fini aushalten. Nur hin und wieder war er dazu zu bewegen, kleinere Arbeiten zu übernehmen, aber das Geld, das er verdiente, wurde ausschließlich in Alkohol und Zigaretten umgesetzt. Manchmal half er bei meinem Onkel Albert aus, wobei man hier ohne weiteres sagen kann, dass die beiden in ihrer Gesinnung, was die Arbeitseinstellung anlangte, einander sehr ähnelten. Jedenfalls war die Sorge, dass sie wegen übertriebenem Fleiß eine Verurteilung befürchten müssten, unbegründet.
Mit und wegen Helmuth kam es immer wieder zu kuriosen Geschichten. Einmal rückten wieder die beiden Gendarmeriebeamten aus. Helmuth glaubte einen Einbrecher, der sich im Dachboden versteckt hielt, ausgemacht zu haben. Die Hüter des Gesetzes rückten an. Beide nicht unbedingt als Helden verschrieen und, was den Alkoholismus anlangte, fast ebenbürtig mit Helmuth. Die beiden näherten sich aus Vorsicht mit gezogenen Dienstwaffen, als sie die Treppenstufen in den Dachboden hinauf schlichen und "Ergeben sie sich. Hier ist die Gendarmerie" riefen. Natürlich war am Dachboden kein Einbrecher zu finden, sondern dieser entsprang dem Geiste Helmuths, der dann wegen eines Deliriums ins Krankenhaus gebracht wurde. So konnten die beiden Gendarmen beruhigt wieder ihre Waffen einstecken und getrost auf ihren Posten zurückfahren, wo sie sich entschlossen, über den Vorall kein Protokoll anzufertigen, denn schließlich muss man ja nicht alles protokollieren.
Ein andermal sorgte Helmut in anderer Weise für Unterhaltung, die in unserer Straße mit viel Feude und Frohsinn aufgenommen wurde. Bei Fini lebte ein Untermieter, der Gori Rudolf. Dieser bewohnte zwei winzige Räume im Parterre und er besaß auch ein schwarzes Puch Moped. Er war Pensionist und vewitwet. Die Einsamkeit nagte an ihm, sodass er sich auf die Suche nach einer Partnerin machte. Über ein Vermittlungsbüro kam er zu einer sehr jungen Frau, Anfang dreißig. Sie stammte von einem Bauernhof, irgendwo aus einem Tiroler Seitental und war ein einfaches, einsilbiges Mädchen aus ganz armen Verhältnissen, das in ihrem bisherigen Leben aufgrund ihrer Nutzlosigkeit hin und hergeschoben wurde und jetzt bei unserem Gori Rudl landete. Hinzu kam, dass sie wirkliche keine Schönheit und überdies mit dem Makel der Fresssucht ausgestattet war. Darum nannten sie alle die dicke Anna. Aber das störte den Rudolf anfangs nicht weiter. Er glaubte, dass man diese Schwäche in den Griff bekommen könnte, aber schon sehr bald musste er mit ansehen, wie seine geliebte Anna immer dicker und noch dicker wurde und wie eine Dampfnudel aufging. Darum sah er keine andere Möglichkeit, als seine Anna auf Diät zu setzen. Er verpasste ihr eine damals in einer Frauenillustrierten angepriesene Eierkur zur Gewichtsreduktion. Das hieß zwei Liter Wasser am Tag und dreimal je zwei Eier, morgens, mittags und abends. Der gute Rudolf sott also hartgesottene Eier und Anna hielt sich auch an diese Rosskur, zumindest zu Hause. Lebhaft erinnere ich mich an die dicke Anna, die während ihrer Eierkur immer bei uns auftauchte und innerhalb kürzester Zeit eine ganze Zeile mit fünf Rippen und gut fünfzehn Deka Salamiwurst verdrückte, um ihren unbändigen Hunger zu stillen. Dieser Akt des Verschlingens und Hineinstopfens dauerte in der Regel genau drei Minuten, weil dann musste sie auf der Stelle zurück zu ihrem Rudolf und zu ihren Eiern. Natürlich war unsere Anna mit ihrer Hungerkur nicht unbedingt erfolgreich, was unseren guten Rudolf immer mehr verdross.

Untertags machte der Gori Rudolf mit seinem Moped immer wieder Besuche bei Bekannten und Verwandten. Nachdem er einsehen musste, dass das Gewichtsdilemma von Anna nicht in den Griff zu bekommen war, wurden diese Mopedausritte immer häufiger. Dabei ließ er seine Anna zurück, zumal sie ohnehin nicht auf seinen Sozius gepasst hätte. Das hatte zur Folge, dass Helmuth sich etwas mehr um die Strohwitwe kümmerte, zumal auch er während des Tages ohne seine Fini sein Auslangen finden musste. Eines seiner Relikte aus seiner Gymnasialzeit war, dass er ein Tagebuch führte. So ergab es sich, dass es zwischen ihm und der dicken Anna zu Annäherungen kam, die von Fini und von Rudolf nicht unbedingt für gut befunden worden wären. Bei Anna muss man auch hinzufügen, dass sie nicht nur der Fressucht ausgeliefert war, sondern auch der Wollusst nicht abgeneigt war. So kam es, wie es kommen musste. Eines Tages fiel der ahnungslosen Fini das Tagebuch in die Hände und sie staunte nicht schlecht, als sie von den amorösen Sauereien ihres Helmuth und der Untermieterin Anna lesen musste. Auf alle Fälle überlegte sich Helmuth in Hinkunft genauer, was er seinem Tagebuch anvertrauen sollte und was nicht, denn die gute Fini machte kein langes Federlesen mit ihrem Partner, sondern verprügelte ihn derart, dass er unter anderem die Kellerstiege hinunterstürzte und sich dabei mehrere Knochenbrüche zuzuog. Mit einer Fini war nicht zu spaßen. Helmuth verbrachte einige Wochen im Krankenhaus, aber als er zurückkehrte, sorgte sie sich wieder liebevoll um ihn, leerte ihm die Milchflasche und betreute ihren Helmuth nach bestem Wissen und Gewissen. Schließlich hatte er seinen Denkzettel verpasst bekommen und als guter Katholik musste man auch vergeben können.

Bei der dicken Anna verlief die Geschichte nicht so glimpflich, denn bald nach diesem Vorfall verschwand sie für immer aus dem Innweg, ohne dass jemand gewusst hätte, wohin.

Im Haus der Fini lebten zwei Rudis. Der alte Rudolf, der Gori Rudl und der junge Rudi, Finis Sohn. Rudi befand sich damals gerade in der Lehre, die er dann aber abbrach, weil er die Berufsschule nicht schaffte. Aber das war für Rudi kein großes Problem, denn er hatte andere hochtrabende Ideen für seine Zukunft im Kopf. Er war groß, schlank, dunkel mit leicht gewelltem Haar, hohen Backenknochen, schaute verdammt gut aus, sodass sich die Mädchen und die Damen nicht nur verstohlen nach ihm umblickten. Rudi wirkte auf das weibliche Geschlecht. Auch legte er, trotz des desolaten Umfeldes, in dem er lebte, großen Wert auf sein Äußeres. Er verdiente als Hilfsarbeiter nicht schlecht und setzte den Großteil seines Einkommens in Kleidung um. Rudi, der Hendl Franz und der Nairz Erich waren die ersten drei jungen Männer in Zirl, die Glockenhosen trugen, die damals in der westlichen Welt fürAufsehen sorgten. Wahrscheinlich sorgten sie bei uns in Zirl für noch mehr Aufsehen als in der großen weiten Welt. Jedenfalls eine Sensation in Zirl. Genauso sensationell waren die Erfolge der drei in Glockenhosen bei den Mädchen. Sie hatten überall ihre Finger im Spiel, wenn es um die jungen heißen Mädchen ging. Für uns Jüngere waren sie die ganz großen Vorbilder und wenn wir sie manchmal im Kinosaal erlebten, wie sie ihre Mädchen bearbeiteten, mit Händen und schmatzenden Zungen, blieb uns nichts anderes übrig, als neidvoll auch auf solche Abenteuer zu hoffen. So wollten wir auch einmal sein, aber uns blieb nur die Hoffnung, dass wir, wenn wir älter wären, ebenfalls so sein würden, wie unsere großen Idole jener Tage.
Was seine berufliche Zukunft anlangte, hatte Rudi ganz ungewöhnliche Pläne. Er wollte Kriminalromanschriftsteller werden. Er legte sich sogar eine Adler-Schreibmaschine zu und versuchte sich in der Manier von Jerry Cotton. Helmuth machte sich einigemale über Rudis Anwandlungen lustig und zeigte meiner Großmutter einige beschriebene Blätter mit Dutzenden von Fehlern und war sich nicht zu blöd auch daraus vorzulesen. Alle Krimis von Rudi spielten in der Bronx und in Harlem und auf jeder Seite gab es zumindest zwei Ermordete. Leider wurde aus dieser Karriere nichts, was Rudi aber nicht aus der Bahn warf, denn neben der Schriftstellerei hatte er auch Ambitionen als Schauspieler. Er redete manchmal davon nach Italien zu gehen, nach Rom in die Cinecitta, zu Fellini und zu Mastroianni. Das wäre wahrscheinlich auch wirklich seine Welt gewesen, aber wenn man in Zirl im Innweg als Sohn der Buttermausn Fini zur Welt kommt, ist es bis in diese Glitzerwelt doch einigermaßen ein weiter Weg.
Auch wenn aus all diesen Träumen von Rudi nichts wurde, dann blieb er bis zum heutigen Tag eine auffallende, unverwechselbare Persönlichkeit, eine Ausnahmeerscheinung, zumindest für mich. Jahre später traf ich ihn immer wieder in Diskotheken und Tanztempeln und jedes Mal hing eine flotte Dame an seiner Brust, denn er hatte Ausstrahlung und ein Aussehen, das auf Frauen wirkte. Noch heute treffe ich ihn hin und wieder und noch immer ist er eine tolle Erscheinung und noch immer hat der Rudi von seiner Lässigkeit nichts eingebüßt, was ich bei jedem Zusammentreffen mit ihm auch genieße.

Franz war der jüngere Halbbruder von Rudi und hatte ein ganz anderes Schicksal als Rudi zu tragen. Meine Großmutter mochte es nicht so gern, wenn er mit mir nach Hause kam, um hier Fernsehn zu schauen. Franzi, der arme Franzi war Bettnässer und hatte auch sonst immer wieder die Hosen voll. Fini ging damit ganz auf ihre rustikale Art um. Wenn das wieder einmal passierte, dann riss sie ihm schimpfend die Hosen herunter, fasste ihn unter den Armen, oder wenn sie ganz wütend war, schnappte sie ihn bei den Beinen und tauchte ihn mit dem Kopf nach unten mehrmals in die Regenwassertonne. Wahrscheinlich hätte sie das auch gemacht, wenn es im Haus ein Bad gegeben hätte, denn Fini verfolgte ihre eigene Methode, um dem armen Franzi das Hosenscheißen und das Bettnässen abzugewöhnen.
Als Erwachsener und je älter Franzi wurde, desto länger wurden seine Psychiatrieaufenthalte. Es trat eine heftige Psychose zutage und er wurde verrückt. Manchmal tauchte er in einem der heimischen Wirtshäuser auf, aufgeschwemmt, fett und krank. Jahre später, als Fini starb, vermachte sie aber dem armen Franzi den Großteil ihres nicht unbeträchlichen Besitzes,  weil inzwischen der Innweg auf Teufel komm raus verbaut wurde, und der Acker von Fini und der Platz, wo ihr Haus stand, einen hohen Verkaufserlös abwarf und jetzt eine riesige Wohnanlage steht. Es ist ja heute so, dass alle Menschen aus der Stadt in die umliegenden Dörfer aufs Land ziehen und dabei geflissentlich vergessen, dass schlussendlich doch alle wieder in mehrstöckigen Reihenhaussiedlungen - wie ehedem in der Stadt - landen. Aber die Vorstellung von einem Haus in der grünen Wiese ist verlockend, auch wenn es sich nur um ein Trugbild handelt.

 

Wir hatten auch eine Kindheit, wo oft lächerliche Ereignisse über unser Weiterkommen entschieden. Die ersten beiden Schuljahre hatten wir Schwester Katharina als Lehrerin.  Sie meinte es sehr gut mit mir, dennoch oder gerade deswegen gingen die beiden ersten Jahre schulisch spurlos an mir vorüber. In der dritten und vierten Schulklasse bekamen wir eine junge Lehrerin aus der Stadt. Diese war sehr launisch, manchmal verfuhr sie streng mit uns, und ich erinnere mich noch heute an so manche Ohrfeige aus heiterem Himmel, ohne dass ich dafür einen Grund gewusst hätte. In Religion unterrichtete uns unser Pfarrer, ein kleiner drahtiger Mensch, der immer in schwarzer Soutane auftrat und bei dem ich mir nie hätte vorstellen, dass auch er manchmal das stille Örtchen benutzen musste. Unser Bild von ihm war so abgehoben, dass wir nicht glauben konnten, dass auch er von solchen schlechten und niedrigen Bedürfnissen geplagt würde. Im Halbjahreszeugnis gelang es mir, einen Vierer in Religion zu bekommen. Die wichtigsten Noten damals waren damals Betragen, Fleiß und Religion. In dieser Hinsicht hätte man fast schon von einer kleinen Katastrophe sprechen können. Gott sei Dank aber nicht bei mir und meiner Großmutter, die das Zeugnis ohnehin nicht besonders interessierte. Als ich nach Hause kam und sie die Noten und meine Meisterleistung in Religion sah, regte sie das aber in keinster Weise auf. Sie murmelte nur etwas von  „ach der Pfarrer ist schon ein komischer Mensch“, vor sich hin, ohne das sonst weiter zu kommentieren.
So streng unsere Lehrerin einerseits auch sein konnte, so nett und lustig, ja gerade ausgelassen war sie an manchen anderen Tagen. Einmal, erinnere ich mich, hob ich die Hand, weil ich dringend auf die Toilette gehen musste.
Ich fragte: "Kann ich bitte auf die Toilette gehen?"
Daraufhin lachte sie übers ganze Gesicht und meinte: "Können tust du schon, aber nicht dürfen.“
Ich verstand das Wortspiel nicht. Jedenfalls verwirrte sie mich mit ihrem fröhlichen Gesichtsausdruck und ich verstand nicht, was ich falsch gemacht haben könnte. Ich hatte doch nur höflich gefragt. Natürlich erlaubte sie mir dann auf das Klo zu gehen.
Was ihre Launen anlangte, erfuhr ich erst Jahre später die wahren Hintergründe dafür. Unsere junge Lehrerin hatte mit dem Dorfdrogisten ein Verhältnis, das aber schwierig war, weil er verheiratet war und seine Frau auch im Geschäft arbeitete. Jedenfalls, und das wurde mir erst später klar, hellte sich ihr Gemüt immer dann auf, wenn mit ihrem Liebhaber etwas lief und verfinsterte sich, wenn es umgekehrt der Fall war.
Jedenfalls hatte ich einmal das ganz große Glück, dass etwas gelaufen sein musste, denn ihrer guten Stimmung verdankte ich, dass ich überhaupt den Sprung in die Hauptschule schaffte und nicht in der  Oberstufe endete, wohin sämtliche Tunichtgute des Dorfes abgeschoben wurden. In der vierten Volksschulklasse stand ich jedenfalls auf der Kippe, ob ich in die Hauptschule kommen würde oder nicht. Es gab deswegen eine Entscheidungsprüfung. Die letzte entscheidende Frage der hübschen Lehrerin war: Wo liegt die Grenze zwischen dem Tiroler Ober- und dem Tiroler Unterland? Für ein Zirler Kind sollte diese Frage – und darum wurde sie auch gestellt -  kein Problem sein, denn die Grenze liegt östlich von Zirl, einerseits durch die monumentale Martinswand, andererseits durch die Mellach, die aus dem Sellraintal kommt. Natürlich hatte ich wieder einmal keine Ahnung. Aber meine Mitschüler riefen mir die Lösung zu und zwar so laut, dass ich sie ohne weiteres verstehen konnte - natürlich auch die Lehrerin - aber wie gesagt, sie hatte einen guten Tag und so durfte ich in die Hauptschule gehen und musste nicht schon damals den ersten Schritt ins soziale Ausgedinge antreten. Aber das Leben schlägt oft so manche seltsame Kapriole, worüber man sich im Nachhinein oft nur wundern kann. Sicher spielten damals für die  Entscheidung wieder einmal meine familiären Hintergründe eine Rolle. Nach dem Konkurs, bei dem meine Eltern alles verlorenhatten , haben sich die Eltern durch ihren Fleiß einigermaßen wieder erholt, ehe meinen Vater ein weiterer Schicksalsschlag traf. Er erkrankte an TBC, musste ein halbes Jahr in die Lungenheilstätte in Hochzirl. Nach seiner Genesung kam er zurück, aber es schien, als ob er das Unglück anziehen würde. Er begann zu hinken. Dauernd plagte ihn ein Schmerz am Oberschenkel und die Untersuchungen ergaben, dass es sich dabei um eine Knochenkrebserkrankung handelte. Er wurde operiert, und zum Glück stellte sich heraus, dass es sich dabei um keinen Knochenkrebs handelte, dass er aber trotzdem einige Monate in die Stolzalpe zur weiteren medizinischen Betreuung hätte gehen müssen. Mein Vater lehnte ab. Er wollte in keine Heilanstalt mehr. Darum wandte sich meine Mutter weinend an den Hausarzt, um ihn um Rat und Hilfe zu bitten  und dieser meinte, er wäre zu jeder Schandtat bereit und so kam er die nächsten Monate täglich zu uns nach Hause, anfangs sogar morgens und abends, um meinem Vater die notwendigen Spritzen zu injizieren und die regelmäßigen Verbandswechsel vorzunehmen. Das ging über Monate so, bis mein Vater wieder hergestellt war. Diese Leidensgeschichte war natürlich auch im Dorf bekannt und auch die Lehrerin wusste darüber Bescheid und darum wird sie wahrscheinlich auch gnädiger bei der Entscheidung gewesen sein, ob ich in die Hauptschule komme oder nicht.

 

Wir hatten auch eine Kindheit mit großen Plänen und Erwartungen für unsere Zukunft. Wie bereits erwähnt, verbrachten wir den Großteil unserer Kindheit auf dem Fußballplatz. Der Fußball stand über Jahre derart im Mittelpunkt unseres Daseins, dass wir alle uns gar nichts anderes vorstellen konnten, als später einmal Fußballprofi zu werden. In dieser Hinsicht hatten wir nicht nur große, sondern auch ganz klare Vorstellungen. Mein Freund Hanspeter und ich spielten in der Schülermannschaft. Er war nicht nur körperlich stärker und robuster gebaut sondern hatte weitaus mehr Talent als ich. Aber auch ich verfügte über meine Vorzüge, vor allem hatte ich eine große Schnelligkeit und einen hervorragenden Riecher, wenn es um einen Abstauber vor dem Tor ging. Ich stand häufig genau da, wo man als Torjäger zu stehen hatte und machte meine Goals. Dabei schien mir mein Augenfehler zu Hilfe zu kommen, also meine Doppelbilder, denn dadurch hatte ich die Fähigkeit, seitlich vom Spiel mehr mitzubekommen, als Leute, die normalsichtig waren. So hatten die Doppelbilder auch ihre Vorteile.
Zu meiner Zeit in der Schülermannschaft war die Taktik noch ganz anders ausgelegt als heute. Wir spielten nach dem System: drei, zwei, fünf. Das bedeutete, drei Verteidiger, zwei Mittelfeldspieler oder Aufbauspieler, wie es damals hieß und fünf Stürmer. Im Sturm standen der rechte Flügel, der center half rechts, der Mittelstürmer, der center half links und der linke Flügel. Ganz nach dem englischen System, das damals das große Vorbild war. Das waren fulminante Sturmläufe, und es mangelte nicht an Toren, sodass die Resultate eher an Handball- als an
Fußballergebnisse erinnerten. Auch war die Ausrüstung noch eine etwas bescheidenere als heute. Kaum einer von uns hatte "richtige" Fußballschuhe mit Stoppeln, sondern wir spielten mit den blauweißen Semperit-Plastik-Sportschuhen. Aber das störte uns weiter nicht. Wenn wir wieder - zumeist gegen Mannschaften aus Innsbruck - eine Ladung einstecken mussten, dann hatten wir die gute Ausrede, dass von denen nicht weniger als sieben Spieler richtige Fußballschuhe besaßen, von uns hingegen keiner. Gegen so ein Team hatte man natürlich keine Chance. Das war klar. Außerdem leistete der Schiedsrichter an Niederlagen stets seinen Beitrag, denn Schiedsrichter pfiffen in der Regel gegen uns, weil diese immer die Städter, also die Innsbrucker, bevorzugten. Daran bestand kein Zweifel. Zudem waren die Innsbrucker meistens auch um einen Kopf größer als wir, was den Verdacht nahe legte, dass sie alle mit gefälschten Pässen unterwegs waren. Jedenfalls gab es stets genügend Gründe, die unsere Niederlagen in einem anderen Licht erschienen ließen. Im Grunde waren wir mit ganz wenigen Ausnahmen eigentlich stets die moralischen Sieger.
Ein Jahr lang war ich selbst mit einem gefälschten Spielerpass unterwegs. Aber das war damals weiter nicht tragisch, denn auf den Schwarzweißfotos schauten alle ziemlich gleich aus. Als ich endlich selber ein Paßfoto besaß - damals gab es beim Hintereingang ins Kaufhaus Tyrol einen Fotoautomaten, der zum Preis von zehn Schillingen vier Fotos auswarf -, musste ich noch eine medizinische Untersuchung bei Dr. Kurt Gerscha über mich ergehen lassen. Dr. Gerscha war unser Hausarzt, der meinem Vater so sehr geholfen hatte, sodass er bei uns zu Hause den Status eines Heiligen innehatte. Die ganze Geschichte von Dr. Gerscha kannte ich damals noch nicht. Nach dem Krieg wurde er mit Berufsverbot belegt, weil er im dritten Reich ein überzeugter Nationalsozialist und von der Rassentheorie überzeugt war. Zur Strafe hatte er eine Zeit lang in einem Sägewerk Bretter stapeln müssen. Als es bei mir um die medizinische Zulassung für das Fußballspiel ging, überlegte er einige Zeit lang Hin und Her, ehe er den Stempel auf das Formular setzte. Er hörte mich mehrmals und lange mit dem Stethoskop ab, irgendetwas schien nicht in Ordnung zu sein. Schließlich bekam ich die Zulassung und in der Folge einen gültigen Spielerpass und war somit ein vollzähliges Mitglied des Teams der Zirler Schülermannschaft. Ich war in meinem Leben selten stolzer als an jenem Tag, als ich den rosa Spielerpass in den Händen hielt. Der Stolz überkam uns auch jede Woche, wenn in der Kirchstraße im Klubkasten des SK Zirl die Mannschaftsaufstellung ausgehängt war, mit den Angaben, wann und wo das nächste Spiel stattfinden würde und wann die Abfahrt, sofern es sich um ein Auswärtsspiel handelte, sein würde. Mit Schreibmaschine geschrieben stand auf dem Zettel die Aufstellung für das nächste Match.Eigentlich mussten alle Zirler Schulkinder an diesem Klubkasten vorbeigehen. Jedenfalls stand dort: Bucher Peter; Peer Ernst, Hanspeter Kremser, Lackner Hermann; Geiger Siegfried, Schnaiter Thomas; Kirchebner Hansjörg, Schafferer Werner, Knoll Friedrich, Sailer Reinhard, Kirchebner Gottfried; Ersatz: Knoll Manfred, Schneitter Elias. Auch wenn ich meistens - zumindest das erste Jahr-  nur Ersatz war, schlich ich fast jeden Tag an der Tafel vorbei, um meinen Namen zu lesen. So viel Stolz erlebt man im Leben nicht oft. Mit der Zeit erkämpfte ich mir einen Stammplatz und dann trug ich in der Regel die Nummer acht und spielte auf der Position rechts außen, da ich bei Eckbällen oder Freistößen häufig gerade dort stand, wo es einen Abpraller gab und ich den Ball ins Tor beförderte. So erhielt ich auch bald den Ehrentitel, der beste Abstauber der Mannschaft zu sein. Einigemale schoss ich sogar spielentscheidende Tore. Einmal lagen wir bei einem Spiel in Scharnitz in der Pause 0 : 2 zurück, aber im zweiten Abschnitt gelang mir ein lupenreiner Hattrick. Den Jubel meiner Mitspieler nach dem Siegestreffer, kurz vor dem Schlusspfiff, habe ich noch heute in den Ohren. Scharnitz ist ein eiskaltes Windloch. Trotzdem wärmt es mir in Erinnerung an diesen Sieg noch heute mein Herz, wenn ich gelegentlich durch diesen Ort fahre.
Bei uns im Dorf gab es ein Lebensmittelgeschäft, das dem Scheiring Edi gehörte. Es war nicht jenes Geschäft, in dem wir normalerweise einkauften, weil es für uns zu abgelegen war. Trotzdem pilgerte ich jeden Montag zum Einkauf dorthin, wenn ich am Wochenende vorher ein Tor geschossen hatte. Edi saß an der Kasse seines Geschäftes und wenn er mich sah, fragte er mich jedesmal, ob ich ein Tor geschossen hätte.
"Ja, ich habe drei Tore in Scharnitz geschossen."
"Großartig! Großartig!", meinte er dann und fragte weiter nach dem Ergebnis.
"Drei zu zwei für uns", lautete meine Antwort.
"Dann hast du die Scharnitzer im Alleingang abgeschossen", entfuhr es Edi und mein Stolz war grenzenlos, und das Geschäft verließ ich nicht auf meinen Füßen, sondern auf einer Wolke. Darum war es damals nur selbstverständlich, dass für mich, was unsere berufliche Zukunft anlangte, nur der Beruf eines Profifussballers in Frage kam. Dieses Ziel lag ganz klar vor mir:  Profi in der Deutschen Bundesliga. Vorher, vielleicht ein, zwei Jahre in der höchsten Klasse Österreichs, dann in die Bundesliga und natürlich auch ein Fixplatz im österreichischen Nationalteam.
Mein bester Jugendfreund war Hanspeter Kremser. Er wohnte auch im Innweg, genau vier Häuser weiter. Sein Vater war Eisenbahner. In seiner Freizeit stellte er gemeinsam mit Eisenbahnerkollegen einen Rohbau nach dem anderen auf. Er war ein fleißiger Mensch. Immerhin hatte er als Alleinverdiener fünf Kinder zu versorgen, um die sich seine gute Frau Erna kümmerte. Hanspeter war der älteste und hatte ein kleines Zimmer im Dachboden für sich ganz allein. Im Hause Kremser gab es für die Kinder zwei Abonnements. Einmal die Mickey Mouse Hefte und dann, für Hanspeter den KICKER, ein deutsches Fußballmagazin. Jeden Dienstag wurde der Kicker vom Briefträger zugestellt und damals war für uns der KICKER  gleichbedeutend mit der Bibel. Stundenlang und nachmittagweise studierten wir die Mannschaftsaufstellungen, diskutierten die Fußballberichte, vertieften uns in die Transferlisten, wobei wir beide große Fans des 1. FC Köln waren. Hanspeters großes Vorbild war Wolfgang Overath, mir hatte es der linke Flügel Hennes Löhr angetan. Da der Vorname Elias damals alles andere als gängig war und für Unverständnis sorgte, wurde mir sehr bald der Spitzname Löhr verpasst, der noch heute von einigen meiner Bekannten verwendet wird, ohne dass sie wissen, woher dieser stammt. Aber das spielt keine Rolle. Es ist heute sogar so, dass mir der Name Löhr lieber ist als mein wirklicher Vorname, nachdem der Name Elias inzwischen zu einem Modenamen mutiert ist.
Damals beeindruckten uns natürlich die Einkommen Spieler. Zumindest wussten wir, dass ein Profifußballer ein Mehrfaches von normalen Leuten verdiente und das war für uns sehr wichtig, denn schließlich waren wir   überzeugt, dass wir in Bälde selbst über derartige Monatseinkommen verfügen würden. Auch wussten Hanspeter und ich ganz genau, wie wir unser Geld anlegen würden und dass wir dann als Dreißigjährige bereits für das ganze Leben finanziell ausgesorgt hätten. Einmal lasen wir einen Sportbericht über den Schalke Spieler und Publikumsliebling Heinz Libuda. Der Verein hatte ihm, um ihn beim Klub zu halten, ein ganzes Miethaus mit acht Wohnungen angeboten, damit er den Vertrag verlängern würde.  Das beeindruckte uns. Wir rechneten daraufhin sofort nach, wie hoch das monatliche Einkommen für den Königsblauen sein würde und uns blieb der Mund offen, wenn wir daran dachten, dass wir auch bald so viel Geld unser eigen nennen konnten. Hinzu kam, dass die Summen in Deutschen Märkern bezahlt wurde, nicht in so schundigem Geld wie dem Schilling. Wir fühlten uns schon im Paradies. Auf alle Fälle brauchten wir uns um unsere Zukunft keine Sorgen zu machen. Die Zukunft war gesichert.
Außer Fußball schwirrten natürlich auch noch andere Ideen in unseren Köpfen herum, was unser Berufsleben anlangte. In Tirol boomte damals der Tourismus. Das bedeutete, zumindest wurde das so kolportiert, dass man dort hervorragend verdienen würde. Das hätte geheißen, zuerst eine Lehre als Koch, dann die Gesellenprüfung und dann ab auf ein Kreuzschiff und schließlich wieder zurück in die Heimat als Chefkoch in einem Spitzenhotel, wo man zu den Spitzenverdienern gehören würde. Jedenfalls genug, um dann auch ein komfortables Leben führen zu können. Diese Perspektiven geisterten in unseren Köpfen herum. Profifußballer oder unter Umständen Chefkoch.

 

Wir hatten auch eine Kindheit, wo wir noch die Ausläufer des katholischen Mittelalters erlebten. Trotz der Abneigung meiner Großmutter gegenüber der Kirche, die ich sehr gut mitbekam,  hatte ich vor dem Herren Pfarrer einen großen Respekt. Er war für mich ein uralter Mann in schwarzer Soutane, der mir körperlos vorkam, direkt vom Himmel herunter. Jedenfalls hätte ich mir nie vorstellen können, dass auch er ganz menschliche Bedürfnisse hatte, wie zum Beispiel auf die Toilette zu gehen. Unser Weltbild basierte mit Himmel, Hölle und Fegefeuer noch auf dem italienischen Dichter Dante, das für uns aber ganz real war. Um in den Himmel zu kommen, musste man auf der Welt viele gute Taten begehen. Wenn man zeitlebens, so wurde uns im Religionsunterricht erklärt, nur gute Taten beging, dann kam man direkt in den Himmel. Wir sollten uns das wie eine Registrierkasse in einem Geschäft vorstellen, wo bei jedem Verkauf eine Münze hineinkam. So war es auch mit den guten Taten. Bei jeder fiel eine Münze in die Kasse. Wenn am Ende des Lebens die Kasse prall gefüllt war, dann stand dem Weg in den Himmel nichts mehr im Wege. In der Hölle hingegen landete man, wenn man schwere Sünden beging. Schwere Sünden beging man, wenn man raubte, mordete, die Eltern nicht ehrte, oder Unkeuschheiten trieb.
Zwischen Himmel und Hölle lag das Fegefeuer. Dort mussten jene Menschen hin, die es weder in den Himmel noch in die Hölle geschafft hatten. Diese armen Hunde waren einer Feuerbrunst ausgeliefert und sie lechzten nach den Gebeten von noch Lebenden, wie unser Pfarrer erzählte, und wenn man für diese eine gute Tat tun wollte, dann sollten wir für die armen Seelen auf dem Friedhof beten.
Meine damalige Freundin Elisabeth stammte aus einem sehr religiösen Haus. Darum hatte sie die Idee, dass wir auf dem Friedhof Gräber abklapperten und für die armen Seelen im Fegefeuer beteten in der Hoffnung, dass sie dadurch in den Himmel kommen würden.  Von Elisabeth ließ ich mich zum Beten auf dem Friedhof auch deshalb überreden, weil sie mit mir, ganz in katholischer Manier,  ihre Jausenbrote  teilte und die Jausenbrote von Elisabeths Mutter die besten Jausenbrote waren, die man sich vorstellen kann. Für so ein Jausenbrot zahlte es sich jedenfalls aus, eine gute Tat zu begehen.

Damals herrschten in unserem kleinen Dorf noch ländliche Strukturen. Arbeiter,Arbeiterfamilien und Arbeiterkinder standen in der katholischen Hierarchie immer ein wenig unterhalb der Mitte. Das hatte auch seine Auswirkungen auf die Sonntagsarbeit. Die Kirche vertrat die Meinung, dass der Tag des Herrn arbeitsfrei zu halten sei. Ausnahmen gab es für die Bauern, damit die Ernte bei schlechten Wetterbedingungen doch noch eingebracht werden konnte. Darum gab es von der Kirche für solche Fälle einen Dispens für die Bauern.
Damals wurde in Zirl sehr viel gebaut und natürlich auch an den Sonntagen, was der Kirche und dem Pfarrer ein Dorn im Auge war, sodass dieser in den Predigten häufig dagegen auftrat. Nur kümmerte das kaum einen Häuslbauer, weil sie nicht in die Kirche gingen und in der Regel die katholische Kirche katholische Kirche sein ließen.

Ein Symbol für das Ende des katholischen Mittelalters auf dem Lande war sicherlich auch, dass nach dem  zweiten Vatikanischen  Konzil (1962 – 1965) nicht mehr von der Kanzel herunter gepredigt wurde, sondern vom Altar, fast auf Augenhöhe mit den Kirchgehern; und vor allem, dass die Messe nicht mehr auf Latein,  sondern auf Deutsch gelesen wurde. Dadurch verlor die Kirche viel von ihrem Mysterium, denn heute weiß man, dass jede Berufsgruppe ihre eigene Sprache mit ihren eigenen Codes hat, die für Außenstehende unverständlich sind. Man denke nur an die Computerfachleute.

Zum Ministranten reichte es bei mir nicht. In der Schule wurden wir einige Male aufgefordert, uns bei den Ministranten zu melden. Ich hatte aber kein Interesse, obwohl bekannt war, dass als Ministrant ein kleines Taschengeld zu verdienen gewesen wäre: bei Hochzeiten, Begräbnissen, Taufen und anderen Feierlichkeiten. Aber das erschien mir nicht verlockend genug, denn bei uns im Dorf lebten nicht all zuviel begüterte Menschen, wo besonders viel abgefallen wäre. Und wenn etwas herausgeschaut hätte, dann waren die Größeren an der Reihe. Als Neuling erhielt man nur die schlechten Termine, wie Frühmessen, Maiandachten etc.
Dennoch gehörten wir der katholischen Jungschar an. Noch heute erinnere ich mich an das blütenweiße Hemd, an das von meiner Großmutter das feuerrote Jungscharwappen  angenäht worden war. Ich war stolz auf das Hemd.      Zudem war das Hemd aus Nylon oder Perlon, der neueste Schrei in jener Zeit, unabhängig davon, dass wir darin unheimlich schwitzten, aber ein Baumwollhemd war eben kein modernes Nylon- oder Perlonhemd. Durch die Jungschar hatten wir auch die Möglichkeit, im Pfarrheim Tischfußball und Tischtennis zu spielen.  In der Jungscharstunde wurden sogar hin und wieder Themen angesprochen, die etwas haarig waren. Zum Beispiel wurde über Selbstbefriedigung gesprochen und uns wurde gesagt, dass man davon gesundheitliche Schäden davontragen könnte, wenn man es übertrieb,  dass sich diese Sache mit achtzehn, neunzehn Jahren von selbst lösen werde, weil man dann das soweit im Griff hätte, dass man die Selbstbefriedigung nicht mehr benötigen würde.
Im Religionsunterricht wurde immer noch vom täglichen Tischgebet vor den Mahlzeiten, als Dank dafür, dass wir zu essen hatten, gesprochen und auch von der Pflicht zum sonntäglichen Kirchenbesuch. Aber all diese religiösen Vorgaben zerbröselten damals ebenso wie das katholische Mittelalter in unserem Dorf.
(Was mich und die Pflicht zur Sonntagsmesse anlangte, hielt ich mich aus sehr persönlichen Gründen als Teenager noch jahrelang an dieses Gebot. Das hatte zwar keine religiösen Gründe, sondern nur den einzigen, dass ich mich in den Sommerferien, als ich bereits in der Klosterschule im Oberstufenrealgymnasium war, in ein Mädchen aus dem Dorf unsterblich verliebte und dieses Mädchen nur am Sonntag in der Kirche sehen konnte, weil ich während der Woche meine Zeit im Internat verbrachte. Die einzige Möglichkeit, mein weibliches Traumbild zu sehen, war bei der Sonntagsmesse. Aufgrund dieser geheimen Liebe – und sie steckt sogar noch heute in mir - besuchte ich regelmäßig die Sonntagsmesse. All die Jahre hatte ich zudem nie den Mut, mein Traummädchen anzusprechen und ich habe auch bis zum heutigen Tag nie ein Wort mit ihr gewechselt. Sie war über viele Jahre meine große unerreichte Liebe, mit der ich in Gedanken viele schöne Stunden verbrachte. Eine wunderbare Zeit. Und wie ich mir heute sicher bin, war es gut, dass wir uns nie kennen gelernt haben, weil durch eine Bekanntschaft dieser zauberhafte Zustand nur zerstört worden wäre. Diese Weisheit ist mit spätestens seit dem Buch von Giorgio Voghera (Anonymus Triestino) „Das Geheimnis“ völlig klar.
Aber auch etwas ganz Anderes und mich Überraschendes hatte mir diese geheimnisvolle Leidenschaft danach eingebracht. Knapp nach meiner Matura war in unserem Dorf auch die Pfarrgemeinderatswahl und weil ich so ein eifriger Kirchengeher war, wurde ich als Jugendvertreter in den Schoß der gewählten Kirchenvertreter aufgenommen. Zumindest eine kurze Zeit lang. So gesehen könnte man sagen, dass bei mir das katholische Mittelalter noch ein wenig länger angedauert hat.)

 

In unserer Kindheit hatten wir auch oft eine harte Schule über uns ergehen lassen müssen. Nach dem Abschluss der Volksschule gab es für uns zwei Möglichkeiten. Entweder man landete in der Oberstufe oder in der Hauptschule. Ins Gymnasium in die Stadt kamen nur vereinzelt Schüler, ausschließlich aus besseren Häusern, aber das spielte bei uns keine Rolle. Aus unserer Klasse wechselte niemand ins Gymnasium. Wer in der Oberstufe landete, wo vier Jahrgänge, von der fünften bis zur achten, alle Schüler in einer Klasse???? zusammengefasst wurden, dessen Zukunftschancen schauten nicht besonders gut aus. Es hieß: naja, für Pickel und Schaufel wird es schon reichen. Wenn es für den Hilfsarbeiter nicht reichte, dann war noch immer der Weg zum Sozialfall offen. Jedenfalls waren in der Oberstufe die Hartgesottenen, die sich der Bildung, des Lesens und Schreibens, verweigerten, sich dafür nicht interessierten und in der Regel von zu Hause auch keine Unterstützung erhielten. Darum wurden diese bereits als künftige Versager gehandelt, die dann in späteren Jahren als Halbstarke am Dorfplatz stehen und filterlose Zigaretten rauchen würden. 
Ich hatte das Glück, knapp an der Oberstufe, vorbeizuschrammen. Aber an die Hautschule habe ich wenige gute Erinnerungen. All die Jahre hatten wir einen strengen, dicken Lehrer als Klassenvorstand, der uns gleich in den ersten Tagen einschüchterte, uns Angst einflößte. Sein Auftrag in der ersten Schulstunde bestand darin, dass er von zwei Schülern für den nächsten Tag zwei Haselnussstecken mitbringen ließ. Länge cirka 1,20 m. Ein weiterer Schüler hatte eine Liste anzufertigen, wo jedes Vergehen eingetragen werden musste. Nach zwei, drei Wochen, jeweils am Samstag in der letzten Schulstunde, wurde dann abgerechnet. Er wollte nicht als Prügler gelten, darum hatten wir zwei Möglichkeiten. Entweder einen saftigen Hosenspanner pro Vergehen oder einen drei Seiten langen Aufsatz. Wir konnten uns freiwillig entscheiden. Wir waren eine reine Knabenklasse und natürlich entschied sich jeder für den Hosenspanner, um nicht als Feigling dazustehen. Hätte sich einer für einen Aufsatz entschieden, dann hätte er als Hosenscheißer gegolten. Auch ich hatte einigemale das Vergnügen Hosenspanner auszufassen, die nicht von schlechten Eltern waren. Danach dauerte es einige Minuten, bis der Schmerz verschwunden war und man sich wieder niedersetzen konnte. Zudem gab es Schadenfreude von allen Seiten, vor allem von jenen, die verschont blieben. Unseren dicken Lehrer hatten wir in den meisten Schulfächern: Mathematik, Naturkunde, Handarbeiten, Turnen, Singen, Physik. Durch seine Methoden lernten wir sehr schnell zu parieren. Darum wurde mit der Zeit der Hosenspanner immer seltener. Für mich als Brillenträger hatte der dicke Lehrer zusätzlich eine weitere Einschüchterungsmethode bereit. Zu Beginn jeder Schulstunde erledigte er administrative Arbeiten, Eintragungen ins Klassenbuch etc.  Dabei schaute er nie auf, hatte uns aber streng unter Kontrolle. Wir verhielten uns mucksmäusestill, natürlich nicht immer.
"Elias, komm heraus", hieß es. Ich musste zum Schreibkpult nach vorgehen.
"Elias, nimm die Brille herunter." Ich legte die Brille aufs Pult. Dann krachte es und ich krabbelte vom Boden auf. Einmal musste ich diese Prozedur wieder über mich ergehen lassen. Aber er ließ mich einfach stehen.  Dann schickte er mich, ohne mir eine aufzulegen, wieder an meinen Platz, kreidebleich, zurück. Auch das tat seine Wirkung.
Jedenfalls hatte die ganze Klasse vor dem dicken Lehrer großen Respekt. Was seinen Unterricht anlangte, daran erinnere ich mich noch sehr gut, brachte er aber auch oft sehr eindringliche Beispiele aufs Tapet, mit denen er uns aus der Reserve lockte, die uns staunen ließen.
Einmal schloss er mit uns - wir hatten die Unterrichtsstunde Physik - die Wette ab, dass er, trotz seiner Körperfülle und auf einem Bein hüpfend fünfzig Meter schneller zurücklegen würde, als der schnellste Sprinter in unserer Klasse mit beiden Beinen. Das wollten und konnten wir nicht glauben. Er spannte uns auf die Folter. Dann kam die Lösung. Der schnellste Läufer müsste in einem mit Wasser gefüllten Schwimmbecken die Strecke zurücklegen, er hingegen könnte am Rand seinen Weg zurücklegen. Wir waren beeindruckt. Damit erklärte er uns in Physik den Widerstand.
Ein andermal gingen wir mit einem Stopselrevolver und einer weißen Fahne ins Schuläuele, einer riesigen Aulandschaft. Ein Team war mit dem Stopselrevolver und der weißen Fahne ausgerüstet, die andere Truppe mit einer Stoppuhr. Die beiden Mannschaften stellten sich in zirka einem Kilometer Entfernung auf. Der Auftrag lautete, dass ein Schüler zu schießen hatte und ein anderer gleichzeitig die Fahne schwingen musste. Der dicke Lehrer stand mit Stoppuhr bei der anderen Gruppe , wo eine Zeitdifferenz zwischen Fahne und Knall von cirka 3 Sekunden gemessen wurde. Dieser Zeitabstand maß den Schall, der pro Sekunde zirka dreihundert Meter zurücklegen würde. Damit erklärte er uns auch die Differenz zwischen Blitz und Donner, zwischen Licht und Schall. Man müsse nur nach dem Blitz die Sekunden bis zum Donner zählen, dann hätte man eine ungefähre Angabe, wie weit das Gewitter entfernt wäre.
Auch sonst wusste unser dicker Lehrer immer gute Beispiele zu erzählen. Damals spielten Computer noch keine Rolle. Trotzdem gab es diesen Begriff schon. Einmal erzählte uns der dicke Lehrer, dass man einmal einen Computer die Frage stellte, welche Uhr genauer ginge, eine die fünf Minuten nachgehe   oder eine andere, die stehen geblieben war. Die Antwort überraschte uns. Sie überraschte uns maßlos. Laut Computer maß nämlich die Uhr, die defekt war, die Zeit genauer, denn sie zeige zumindest zweimal täglich die richtige Zeit an, während jene Uhr, die immer nachgehe, nie die richtige Zeit anzeige. In dieser HInsicht war unser dicker Lehrer ein kleines Genie. Er verstand es uns zu fesseln und uns bestimmte Dinge beizubringen.
In Englisch unterrichtete uns eine junge Lehrerin, die sehr engagiert, besser gesagt, sehr menschlich mit uns umging. Sie stammte aus einem gutbürgerlichen Haus und sie hatte ein Herz für Kinder, die gesellschaftlich nicht zu ihren Kreisen gehörten. Ihre Familie war eine alteingesessene und gut situierte. Der Vater bekleidete das Amt eines hohen Beamten im Landesdienst, eine Tochter war ebenfalls Lehrerin und der Bruder, ein Jurist, strebte beruflich seinem Vater nach. Das jüngste Kind, unsere Englischlehrerin, war das Nestheckchen der Familie und so behandelte sie auch uns. An mir hatte sie einen Narren gefressen; an mir, klein, schmächtig, mit Krankenkassenbrillen und schielend und von der Schule völlig eingeschüchtert. Fast immer in der Hauptschule ging es bei mir ums Sitzenbleiben, ums Wiederholen einer Klasse. Schon damals war das ein schwerer Makel und wenn man in einem bestimmten Schulfach schlecht war, dann war man nicht nur darin schlecht, sondern man war als ganze Person nichts wert.
Wieder einmal hatte ich eine entscheidende Schularbeit, wo es ums Weiterkommen ging. Die gestellten Aufgaben waren für mich ein spanisches Dorf. Ich wusste genau, dass das schief gegangen war und noch heute kann ich dieses elende Gefühl des Versagens in mir wachrufen. Es war entsetzlich. Mir war klar, dass ich ein „nicht genügend“ bekommen würde. Gott sei Dank fragte mich daheim niemand, wie es mir ergangen war, denn Großmutter interessierte wirklich nicht, was sich in der Schule abspielte. Sie wusste weder, ob ich eine Schularbeit hatte, ob ich meine Hausaufgaben erledigt hatte oder wie mein Stundenplan ausschaute. Das waren Dinge, außerhalb ihres Interessenkreises und das war für mich sehr angenehm, sodass ich zumindest zu Hause meine Ruhe hatte.  Einmal sagte meine Großmutter, dass Dinge, vor denen man große Angst hätte, häufig gut ausgehen und sich häufig im Nachhinein herausstellen würde, dass die Angst überflüssig war. Tage später musste ich an diese Weisheit meiner Großmutter denken. Zu meiner Überraschung erhielt ich einen Vierer. Ich verstand die Welt nicht mehr, bis mit klar wurde, dass meine junge Lehrerin bei den Korrekturen sehr nachlässig vorging. Tatsache war, dass sie es nicht übers Herz gebracht hatte, mir ein „nicht genügend“ zu verpassen, was mir ohne Zweifel zugestanden wäre. Aber sie hatte einfach Mitleid. Noch in dieser Stunde wurden die Korrekturen gemacht und die Hefte eingesammelt, die dann für immer verschwanden, denn es war ja die letzte Schularbeit des Jahres.
Nur einmal hatte ich in der Hauptschule eine großartige Zeit. Mein Onkel Stefan brachte eine Freundin mit nach Hause, seine spätere Ehefrau. Sie war Kindergärtnerin und nahm mich unter ihre Fittiche. Ein halbes Jahr lang. Plötzlich gehörte ich fast zur Elite der Klasse. Ich hatte jede Hausaufgabe, übte mit ihr Rechnen, Deutsch, Englisch und war in allen Nebenfächern bestens vorbereitet. Es war fast schon eine Freude in die Schule zu gehen. Im Halbjahreszeugnis erhielt ich als Einziger der Klasse eine Belobigung. Dafür erhielt ich dann sogar vom Chef meiner Mutter dessen altes Fahrrad, ein Waffenrad, das er als Student benutzt hatte. Nach dem Halbjahreszeugnis bekam die Tante aber eine fixe Anstellung und sie fand keine Zeit mehr, sich um mich zu kümmern, sodass ich sehr schnell wieder in den alten Trott zurückfiel und wieder dort landete, wo ich mich üblicherweise befand. Nur hatte ich dieses Jahr keine Probleme mit dem Aufstieg, obwohl ich in allen Hauptfächern nur wieder Vierer kassierte, aber durch meine guten Leistungen im ersten halben Jahr, ging danach alles glatt.
Nach der vierten Klasse stellte sich die Frage, wie es mit mir weitergehen sollte. Damals wurde die Schulpflicht gerade um ein Jahr, um den Polytechnischen Lehrgang, verlängert. Dieses neue Schuljahr hatte von allem Anfang an keinen guten Ruf, zudem begann auch in unserer Gegend die Bildungsoffensive um sich zu greifen, und mehrere Schüler meldeten sich für die Aufnahme in mittlere und höhere Schulen, denn wenn es schiefging, konnte man ja immer noch nach einem Jahr einen Beruf ergreifen. Jedenfalls besser, als ein völlig verlorenes Jahr im Polytechnischen Lehrgang.

 

Wir hatten auch eine Kindheit und frühe Jugend, wo eine neue Welt in unser Dorf drang. Meine Mutter meldete mich für die Handelsschule in Telfs an, die damals gerade neu gegründet wurde. Sie dachte, dass ich dort leichter unterkommen würde als in Innsbruck, denn sie vermutete, dass es in Telfs nicht genügend Anmeldungen geben würde. Damals musste man für höhere weiterführende Schulen eine Aufnahmeprüfung bestehen. So auch in Telfs. Für Innsbruck sah meine Mutter für mich weniger Chancen. So pilgerte ich mit dem Postbus nach Telfs zur Aufnahmeprüfung und es gelang mir, zusammen mit einem zweiten Schicksalsgefährten, diese Aufnahmeprüfung nicht zu bestehen. Am frühen Nachmittag wurde das Ergebnis auf einer Anschlagstafel bekanntgegeben. Der glorreiche Elias und der glorreiche Josef schafften es als einzige nicht. Ich fühlte mich derart elend, dass ich mit Tränen in den Augen die fünfzehn Kilometer von Telfs nach Zirl zu Fuß zurücklegte. Ich wollte keinen Postbus benützen, und ich wollte eigentlich gar nicht mehr nach Hause kommen. Zumindest dies so lange als möglich hinauszögern. Natürlich waren meine Eltern, vor allem meine Mutter, schwer enttäuscht, versuchten es aber, mich nicht spüren zu lassen.
So kam ich in den Polytechnischen Lehrgang, wo ich eigentlich ein angenehmes Jahr vor mir hatte, die schulischen Anstrengungen waren nicht allzu groß, und da im Polytechnischen Lehrgang all jene landeten, die für höhere Schulweihen nicht geeignet waren, reichte mein schulisches Können aus, um keine Probleme zu haben.
In einer der ersten Schulstunde kam der Direktor der Schule zu Besuch und er fragte uns, wer eine Aufnahmeprüfung versucht und nicht bestanden hatte. Ich zeigte als Einziger auf. Der Gesichtsausdruck des Direktor Prantl ist mir noch sehr gegenwärtig. Er besagte, dass der Direktor sich bei mir nichts anderes erwartet hatte. In der Pause kam ein Mädchen auf mich zu und fragte mich, warum ich mich vorhin gemeldet hätte. Sie tröstete mich damit, indem sie mir eröffnete, dass sie auch eine Aufnahmeprüfung gemacht hätte und durchgefallen sei, aber nie auf die Idee gekommen wäre, dies preis zu geben. Diese Information freute mich wegen ihrer Offenheit und uns beide verband seit dem Tag eine nette Freundschaft. Auch lernte ich von ihr, dass es besser ist, einfach seinen Mund zu halten. Warum muss man seine eigenen Schwächen immer bekannt geben?

Das Jahr im Polytechnikum bedeutete für mich eine Art Atempause. In unserer Freizeit am Nachmittag und am Abend trieben wir uns vor allem im Kinogebäude herum. Damals gab es in Zirl noch ein Kino. Das hatte auch am Nachmittag geöffnet, weil dort auch ein kleines Cafe betrieben wurde. Im großen Vorraum standen auch zwei Flipper-Automaten und eine Musikbox. Damals kam durch die Musik eine neue Welt zu uns in die Abgeschiedenheit.  Beatles, Rolling Stones, Kinks, etc. Aus der Jukebox dröhnten immer die gleichen Songs, unter anderem „San Francisco“, „Mona“, „Mendocino“, „Satisfaction“ oder „Yellow Submarine“. Damals lief das eher nebenbei. Diese Musik gefiel uns, aber sie elektrisierte uns nicht. All das sollte erst später passieren und seine Auswirkungen haben.

Eine drängende Frage im Polytechnischen Lehrgang war stets und eine der wenigen unangenehmen Dinge in diesem Jahr: Was willst du nachher für einen Beruf ergreifen? Ich hatte überhaupt keine Ahnung, außer dass mir damals bereits klar war, dass aus der Fußballerkarriere nichts werden würde.
Einmal verbrachten wir mit der Schule einige Tage in Südtirol. Damals hatte ich einen Freund aus Inzing. Er hieß Arnold Kämpf und beim Frühstück brachte er es fertig, die wunderbarsten Butterbrote zu schmieren. Mit Hingabe trug er die Butter gleichmäßig auf wie kein zweiter. Das machte er mit einer bewundernswerten Hingabe, die mich sehr beeindruckte. Er hatte übrigens eine fixe Vorstellung, was seinen künftigen Beruf anlangte. Er wollte Konditor werden. Das hörte sich auch für mich großartig an. Darum sagte ich, wenn ich die Berufsfrage gestellt bekam, dass ich Konditor werden wolle. Zumindest hatte ich eine Antwort und einmal fuhr ich mit Freunden nach Innsbruck ins Kino, und wir gingen damals auch in die Konditorei Gritsch in der Anichstraße auf eine Limonade und seit dem Tag sagte ich, dass ich eine Konditorenlehre beim Gritsch in der Anichstraße beginnen würde. Zu meinen Eltern sagte ich natürlich nie etwas von meinem Berufswunsch, aber damals hatte meine Mutter schon Pläne für meine Zukunft.
Auch mein Vater machte seinen Einfluss ein wenig geltend.
Er hielt nichts von einem Handwerksberuf, schon gar nicht für mich. In seinen Augen hatte ich dafür kein Talent und auch schien ich ihm körperlich zu schwach, um harte Arbeit überhaupt bewältigen zu können. Er hatte handfeste Argumente für mich, warum es klüger wäre, eine bessere und leichtere Arbeit zu verrichten: Arbeitest du in einem Büro, dann bist du nicht dem Wetter ausgeliefert. Im Büro gibt’s keinen Regen, keine Kälte, keinen Zugluft. Im Freien hingegen regnet es, schneit es, der Wind bläst dir um die Ohren, sodass du spätestens mit fünfzig körperlich am Arsch bist. Im Büro ist im Winter eingeheizt, du bleibst bis ins hohe Alter gesund, der Bleistift ist das schwerste Werkzeug, das du in die Hand zu nehmen hast. Dort gibt es keine Kreuzschmerzen, wie am Bau, wenn du schwere Zementsäcke tragen musst. So sah mein Vater die berufliche Zukunft für mich. Aber zu entscheiden hatte ohnehin die Mutter.

Wegen der Tuberkuloseerkrankung meines Vaters  kam ich in den Genuss, dreimal in den Sommerferien auf einen sechswöchigen Erholungsurlaub geschickt zu werden, der von der Bezirksgesundheitsbehörde organisiert wurde,. Dr. Gerscha hatte dafür ein ärztliches Attest auszustellen. Zweimal gings nach Schwarzach St. Veit, wo wir wie Schwindsüchtige behandelt wurden. Jeden Tag mussten wir nach dem Essen drei Stunden auf der Holzveranda liegend verbringen, während die Sonne herunter brütete. Jeden Freitag gab es die Abwaage und der bravste von allen war immer jener, der am meisten zugenommen hatte. Einmal, erinnere ich heute, hatte ein Saalfeldner nicht weniger als sieben Kilo in den sechs Wochen zugelegt, worauf er zum Ferienlagersieger erkoren wurde.
Das dritte Mal ging es für mich nach Riccione ans Meer. Dort hatten wir herrliche Strandtage und gutes Essen, sofern das Personal nicht gerade einen Streik ausrief, was jede Woche einmal der Fall war. In der zweiten Woche hatten wir eine medizinische Untersuchung durch einen italienischen Arzt. Bei dieser wurde ich länger untersucht als die übrigen und es kam noch am selben Tag zu einer neuerlichen Untersuchung, . Dabei stellte man bei mir ein Leistenbruch fest. Man fasste sogar eine Operation im Krankenhaus in Rimini ins Auge, was aber sehr bald wieder verworfen wurde. Man überlegte, mich nach Hause zu schicken, aber allein wollten sie mich nicht zurück schicken, so wurde beschlossen, dass ich die restliche Zeit im Haus, also die meiste Zeit im Bett zu verbringen hatte, damit ich geschont würde. Eine Woche leistete mir ein Schwazer Gesellschaft, der etwas älter und reifer als ich war und die meiste Zeit in seinem Bett masturbierte und mir ganz stolz immer wieder seinen steifen Pimmel zeigte. Es waren drei lange Wochen, an denen ich nicht mehr an den Strand durfte und auch sonst an den normalen Spielen nicht teilnehmen durfte.
Als ich dann nach Hause kam, wurde ich sofort von unserem Hausarzt Dr. Gerscha untersucht, der über die Diagnose seines italienischen Kollegen den Kopf schüttelte. Ich hatte keinen Leistenbruch, sondern es wurde bei mir ein Steckhoden festgestellt, der bis dahin nie entdeckt worden war. Der Hausarzt überlegte lange, wie man diesen Defekt behandeln könnte. Er zog eine Hormonkur in Betracht und wenn diese nichts nützen würde, könnte man immer noch eine Operation ins Auge fassen. So ging ich wöchentlich in die Ordination von Dr. Gerscha und bekam jedesmal eine saftige Spritze verpasst, aber mein linker Hoden blieb dort, wo er war und dort wo er nicht hingehörte.
Mit fünfzehn kam ich dann jedenfalls ins Krankenhaus und wurde von Dr. Marberger in der Urologie operiert. Zu der Zeit stand die Klinik sehr im Mittelpunkt medialer Berichterstattung, denn genau zur gleichen Zeit, als ich dort stationär untergebracht war, wurde auch die österreichische Schiweltmeisterin Erika Schinegger zum Erik Schinegger umgewandelt. Jedenfalls hatte dieses Zusammenfallen von Erika Schinegger und meinem Aufenthalt die Folge, dass mich nach meiner Entlassung alle fragten oder besser gesagt auf die Schaufel nahmen: Haben sie aus dir ein Weib gemacht?

Meine Schwester ist um drei Jahre älter als ich. Sie hatte eine Ausbildung zur Diätassistentin gemacht, arbeitete an der Klinik, wo sie aber mit ihren vorgesetzten Krankenschwestern, damals zum Großteil noch geistlicher Natur, ihre Probleme hatte. Außerdem war sie sehr ehrgeizig und wollte unbedingt die Matura schaffen und anschließend studieren. Darum waren sie und die Mutter auf der Suche nach einer Schule für meine Schwester. Natürlich wurde mit meiner Konditorlehre nach dem Polytechnischen Lehrgang nichts, sondern man steckte mich – im wahrsten Sinne des Wortes,  zumal ich keine Vorstellung von meiner Zukunft hatte – in eine einjährige private Büroschule, die ich mehr recht als schlecht absolvierte und wo die sehr resolute Direktorin, die gerne als Mannweib bezeichnet wurde, am Schulschluss den Vorschlag machte, dass ich diese Schule noch einmal wiederholen sollte. Aber das kam für meine Mutter nicht in Frage.
Meine Mutter und meine Schwester stießen bei ihrer Suche nach einem Oberstufengymnasium auch auf das Meinhardinum im Stams. Dort hatte man in den Fünfzigerjahren ein Privatgymnasium installiert, mit dem Ziel, klerikalen Nachwuchs zu rekrutieren. Als ich 1969 dorthin kam, wurde aus der Privatschule gerade eine öffentliche. Es wehte zwar noch immer der Priesternachwuchsgedanke in den Gemäuern, und ich wurde auch gleich nach meinen Berufsvorstellungen für die Zeit nach der Matura gefragt, aber grundsätzlich ging man damals daran, ein ganz gewöhnliches Oberstufenrealgymnasium mit angeschlossenem Internat zu installieren. Diese Schule war ausschließlich für Knaben. So kam es für meine Schwester nicht in Betracht, aber für mich war das anscheinend der ideale Platz. Wieder wurde ich zur Aufnahmeprüfung angemeldet. Damit ich diese nicht wieder – so wie in Telfs – in den Sand setzen würde, organisierte meine Mutter auch noch einen Nachhilfelehrer. Damals begann es für meine Eltern finanziell aufwärts zugehen. Mutter bekam einen Job bei der Gebietskrankenkasse als Arzthelferin, und mein Vater wurde zum Heizungstechniker umgeschult. Damals wurde Bildung von politischer, vor allem sozialistischer Seite auch für die Kinder der kleinen Leute und nicht nur für Bürgerliche groß geschrieben und meine Schwester und ich gehörten zu den ersten, die diese Möglichkeiten nützen sollten und konnten. Bei mir etwas mit Umwegen. Wieder reiste ich zur Aufnahmeprüfung mit dem Bus, diesmal mit dem Ötztaler, in Stams an. Wieder ging die Prüfung über den Vormittag, aber diesmal wurde man vom Ergebnis im Nachhinein schriftlich informiert. Gefragt waren die Fächer, Deutsch, Englisch, Mathematik einmal in schriftlicher und in einmal mündlicher Form. In Deutsch hatte ich – und darauf bin ich heute noch stolz – einen genialen Aufsatz geschrieben. Ohne Zweifel. Wir sollten einen Erlebnisaufsatz verfassen. Für mich war es naheliegend, über mein Versagen bei der Aufnahmeprüfung zur Handelsschule in Telfs zu schreiben und wie ich nachher meinen Weg nach Hause zurücklegte. Eine bessere Themenwahl hätte ich nicht treffen können. Aber auch dieser Griff in den Schmalztiegel nützte nichts. Der Brief trudelte ein, mir, besser gesagt meinen Eltern wurde mitgeteilt, dass ich wieder nicht bestanden hatte.  Das traf alle hart. Zumindest war mir durch die schriftliche Verständigung ein weiterer Fußmarsch, dieses Mal über 30 Kilometer, erspart geblieben. Aber es kam doch noch zu einer positiven Lösung.
In meinem Fall war das damals die sogenannte Übergangsklasse. Was war eine Übergangsklasse? Eine Übergangsklasse war ein Vorbereitungsjahr für die Oberstufe. Hier wurden nur die Hauptfächer unterrichtet, keine Nebenfächer und wenn man diese Übergangsklasse positiv bestand, dann konnte man automatisch – ohne Aufnahmeprüfung – in die Oberstufe aufsteigen. So kam ich in die Übergangsklasse und ins Klosterinternat nach Stams.
Dort sollte ich im zweiten Jahr von einer seltsamen Krankheit heimgeholt werden. Jahre bei Ärzten und Therapeuten sollten folgen, wo immer von einer schweren psychosomatischen Störung gesprochen wurde. Auch unser Hausarzt Dr. Gerscha kümmerte sich um mich, aber er hatte für mich wenig Verständnis, seine Studentenzeit und sein idealistischer Ansatz von einem gesunden, starken Menschenbild schlugen bei ihm durch, und in dieser Hinsicht konnte ich vor ihm nicht bestehen. Es folgten einige herbe Jahre für mich.

Als vorläufigen Abschluss für diese Erinnerungen möchte ich den Wiener Schriftstelle Egon Friedell und seine „Geschichte der Neuzeit“ in Erinnerung rufen, in denen er schreibt, dass der Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit von einer schweren gesellschaftlichen Krankheit geprägt war, aber, wie Friedell weiter aufzeigt, beginnt alles Neue mit einer Krankheit, weil Neues nur entstehen kann, wenn das Alte abgeworfen wird und das Loswerden des Alten bezeichnet Friedell als Krankheit. Bei ihm begann  mit der großen Pest 1348 die Neuzeit. Wenn man so will, endeten meine Kindheit und meine frühe Jugend mit einer seltsamen Krankheit, die mich jahrelang fest in ihren Fängen hielt, aber schließlich entstand daraus mein Leben als Erwachsener.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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